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Award / Auszeichnung | 09/2019

Saarländischer Nachwuchspreis für Architekten

Productive City Bruxelles – La Connexion Mabru

2. Preis

Preisgeld: 300 EUR

Florian Jesch

Student*in

Erläuterungstext

Analyse:
Die Metropole Brüssel war zu Zeiten der industriellen Revolution einer ihrer grossen Vorreiter in Europa und eines ihrer industriellen Zentren. Ausschlaggebend für diese Position war der Canal, welcher sich quer durch die Stadt erstreckt und an dessen Ufern die Produktion industriell gefertigter Waren vorallem in den Bereichen Metallverarbeitung, Druck und Fahrzeugproduktion stattfand. Heute besitzt Brüssel einen der geringsten Anteile an Arbeitsplätzen im Industriesektor Europas und hat dementsprechend mit einer hohen Arbeitslosigkeit von 20-40% zu kämpfen. Der Gedanke einer produktiven Stadt mittels Aktivierung der mittlerweile vielen Brachflächen am Canal könnte in Zukunft ein effektiver gesellschaftlicher Problemlöser sein. In der Morphologie Brüssels ist bis heute die Wichtigkeit des Canals begründet. Das Wachstum fand sowohl radial um die Altstadt statt, als auch linear entlang des Canals. Dementsprechend befinden sich hier die dichtesten urbanen Gebiete. Zudem findet der Grossteil des Transits über den Wasserweg mit seinen strategisch platzierten Umschlagplätzen statt. Somit stellt der Canal die Hauptschlagader Brüssels dar. Warum dann nicht das Tal der historischen Senne, welche im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts fast vollständig überbaut und auf dem Schiffahrtsweg durch den Canal ersetzt, als öffentlichen Raum denken? Konzepte in der Stadtentwicklung setzen hier schon an und sind teilweise schon in der Umsetzung. Bedient wird sich dazu zahlreicher ehemals wichtiger Gebäude der früheren Industrie entlang des Senne-Tals, deren Funktionen lediglich neu gedacht werden müssen. Eines dieser Konzepte stellt die sogenannte „Schaerbeek-Formation“ dar. Der Stadtteil Schaerbeek befindet sich im Norden Brüssels in Nachbarschaft der Domaine Royale. Hier besteht momentan am Canal ein dreigeteiltes Logistikareal, in welches auch der berühmte Mabru-Markt eingebettet ist. Dessen Schwerverkehr stellt eine momentan akute Belastung für die Stadt dar. Am Ende des Areals beginnt der Hafen von Brüssel. Geplant ist nun die Verlagerung des Grossmarktbereichs hin zum Hafen und eine dortige Konzentration und Verdichtung der Logistik. Die nun frei werdenden Bereiche sollen zukünftig ein gemischt genutztes Quartier mit dem Thema produktive Stadt beherbergen, sowie einen daran angeschlossenen Bildungscampus. Zudem ist es denkbar dort zusätzlich ein neues Stadion für Brüssel zu errichten. Der nachfolgende städtebauliche Entwurf für das zukünftige Quartier Mabru soll Vision und Vorschlag für den geplanten Bereich eines produktiv genutzten Stadtteils am wichtigen Canal sein. Schafft der Bereich es seine Insellage zu überwinden, so stellt er einen starken und wichtigen Stadtbaustein Brüssels dar.

Konzept:
Das Quartier Mabru soll stellvertretend für den Ort mit seinem industriellen Hintergrund stehen. Somit erlangt der genius loci einen sehr hohen Stellenwert. Das geplante Areal befindet sich in direkter Nachbarschaft zum Laken Park samt seiner Domaine Royale, welcher die am grössten konzentrierte Grünfläche Brüssels verkörpert. Betrachtet man die urbane Struktur Brüssels, so zeigt sich eine sehr dichte Stadt, die eine weit grössere Bevölkerungsdichte als jede andere deutsche Grossstadt zu verzeichnen hat. Zusätzlich dazu befinden sich in der Nähe des Areals Teile der historischen Senne, die im stark urbanisierten Bereich Brüssels fast vollständig überbaut und durch den Canal verdrängt wurde.Somit lässt sich durch die vorgefundenen Gegebenheiten eine Vision für das Quartier Mabru erstellen. Die hohe Dichte der Brüsseler Innenstadt soll in einer kompakten, innenliegenden Stadtstruktur abgebildet werden. Die historische Senne soll teilweise freigelegt und zentral gelegen als produktive Strasse durch das Quartier geführt werden. Die stark präsenten Grünflächen des Laken Park sollen wie ein Grüngürtel um die innenliegende Stadtstruktur herumgelegt werden und einen Kreislauf mit dem Park bilden. Hier befinden sich die grosszügigen Freiräume des Quartiers, welche sequenziell hintereinander angeordnet werden. Der Quartiersplatz befindet sich am Rande des kürzlich entstandenen Einkaufszentrum Brüssel Docks und öffnet sich zum Canal sowie Laken Park. Hier soll sich im Zentrum auch die neue Markthalle befinden, welche in der Stadtgeschichte Brüssels schon immer eine grosse Bedeutung hatten. Sie stellt einen wichtigen Baustein im Stadtgefüge dar und bildet ein Ensemble mit dem daneben gelegenen Haus der Kulturen, welches Raum für Events, Theater, Kino und sonstige Veranstaltungen bieten soll. Gleichzeitig kann dieses auch den grosszügig angelegten Quartiersplatz mit Freiluftevents bespielen. Ebenfalls am Platz gelegen ist das denkmalgeschützte Familistère Godin. Dieses wichtige Kulturdenkmal der Industriegeschichte soll aktiviert werden und in Zukunft Platz für ein Café, ein Hotel und Wohnungen bieten.

Die nächste Sequenz bildet der Quartierspark, welcher mit seinen grosszügigen Grünflächen und dem anschliessenden Sportpark ein städtisches Naherholungsgebiet darstellt. Im Gegensatz zum grosszügigen Quartierspark besitzt der Sportpark einen anderen Charakter. Die Promenade, welche als Band am Rande des Quartiers zwischen Mabru und Schaerbeek verläuft, wird durch zahlreiche Bäume begleitet und verläuft als attraktive Pufferzone entlang der Bahngleise des nahegelegenen Eisenbahnnetzes. Ebenfalls im Sportpark befindlich sind Gebäudeformen des experimentellen Wohnens. Diese Wohntürme mit Atrium sind dem gemeinschaftlichen Wohnen des Familistère Godin nachempfunden. Sie sollen die damalige Wohnform, übertragen ins postindustrielle Zeitalter, erproben. Gleichzeitig soll besonders Wert auf eine hohe Technisierung, altersgerechtes Wohnen und Barrierefreiheit gelegt werden. Die pentagonale Kubatur soll experimentelle Gebäudeformen mit optimierter Orientierung zum Licht testen.
Am Ende des Sportparks positionieren sich Sportanlagen und ein kleiner Badesee mit grünem Ufer. Dieser bildet gleichzeitig den Abschluss der Senne im Quartier. Zusammen mit einem Pavillon ensteht ein attraktiver Raum zum Verweilen.

Durch zahlreiche neue Verbindungen versucht das Quartier Mabru seine Insellage zu überwinden. Die wichtigste dieser stellt die neue Pont Laken-Schaerbeek dar. Diese Rad -und Fussgängerbrücke überquert sowohl den Canal im Bereich des Familistère Godin, als auch die Eisenbahnanlage zwischen Mabru und Schaerbeek. Damit schliesst sie auch an die Hauptverkehrsachse in Richtung Schaerbeek an, die direkt entlang des nahegelegenen Parc Josaphat verläuft. Dieser Park stellt mit seinem reichhaltigen Sport - und Naturangebot ein weiteres wichtiges Naherholungsgebiet Brüssels dar. Denkt man diese Verbindung in beide Richtungen weiter, so könnte der Laken Park der Öffentlichkeit irgendwann zugänglich gemacht werden und es entstünde eine Verbindungsachse bis zum Atomium. Deshalb platziert sich einer der beiden Endpunkte der Brücke genau in Sichtachse einer Baumschneise im Laken Park. Dort befindet sich ein Aussichtspunkt, von welchem man direkt das Châteaux Royale erblicken kann.

Das Quartier Mabru als kompakte, innenliegende Stadtstruktur ist grundsätzlich als Rastersystem mit zentralem Fluss angelegt. Grosse Blockstrukturen entlang der Senne bieten in ihren EG-Zonen wertvollen Raum für die Produktion. Der Schwerpunkt liegt hier vorallem in der manufakturiellen Produktionsweise und soll der ausschlaggebende Standortfaktor sein. Aber auch am Canal soll die Produktion präsent sein. Dort sollen vorallem Co-Working Spaces, Büros, Ateliers und Studios entstehen. Der Verkehrknotenpunkt am Quartiersplatz bildet das Rückgrat der Mobilität. Hier kreuzen sich alle Formen des Transports im Quartier: Der MIV am Quai des Usines, die Fuss- und Radwege, die Wassertaxistationen am Canal, sowie die Brüsseler Tram. Zusätzlich durchfahren e-shuttles die Hauptverkehrsachse.

Beurteilung durch das Preisgericht

Der Ursprung des Projektes liegt in Überlegungen des Verfassers, einen Beitrag zu einer produktiven Stadt mittels Aktivierung der vielen Brachflächen am Kanal zu leisten, die durch den Niedergang der Industrieproduktion vor Ort in Brüssel entstanden sind. Eine sehr gründliche Analyse – die eingehende Lektüre der Stadtlandschaft – bildet die Grundlage für den städtebaulichen Entwurf. Abweichend von anderen Arbeiten, die gemischt genutzte Hochhäuser als vertikale Stadt vorschlagen, entwickelt der Verfasser ein gemischt genutztes Stadtquartier in der Fläche. Einige Punkthäuser betonen besondere Orte im Quartier. Ansonsten wird mit dem bewährten Vokabular des Städtebaus – Blockstrukturen mit „klassischer“ Traufhöhe, Grünachsen, Quartiersplätze – gearbeitet.

Der Verfasser schlägt vor, die fast vollständig überbaute Senne freizulegen und zu renaturieren. Der neue Grünzug teilt das Quartier nahezu mittig in Längsrichtung. Nordwestlich dieser Grünachse sind vor allem gewerbliche Nutzungen vorgesehen – auch wegen der Nähe zum ‚Canal de Willebroek‘ als Transportweg: Handwerkerhöfe, Gewerbebetriebe, Büro- und Kanzleiflächen, eine Markthalle mit Marktplatz. Ergänzt wird diese Zone durch öffentliche Nutzungen: Hotel, Freibad, Bibliothek, Haus der Kultur. Der vorgelagerte Quartiersplatz ist Verkehrsknotenpunkt.

Südöstlich des Grünzugs finden sich vor allem Wohnnutzungen mit Einrichtungen zum täglichen Bedarf: Supermärkte, Gastronomie. Der grüne Quartierspark ist das Pendant zum steinernen Quartiersplatz. Nach Süden zur Bahnlinie wird das Quartier durch einen Grünzug – den Sportpark – begrenzt, in dem in lockerer Folge Wohntürme über pentagonalem Grundriss mit Innenhöfen aufgereiht sind. Sie dienen experimentellen Formen des gemeinschaftlichen Wohnens mit Kitas und Ateliers im EG.

Die Dachflächen des neuen Stadtteils werden begrünt, zu Terrassen ausgebildet oder nehmen dezentrale Windkraftanlagen auf.
Die Jury würdigt hier den konzeptionellen und nachhaltigen Ansatz zur Umwandlung von Konversionsflächen in eine ‚produktive Stadt‘, die städtebauliche Qualität, die geschickte Zonierung ebenso wie die gelungene Einbindung und Verankerung des Quartiers in den weiträumigen Kontext der belgischen Hauptstadt. Es könnte ein weitgehend autarker Stadtteil der kurzen Wege innerhalb Brüssels entstehen. Das Preisgericht erkennt diesem Projekt wegen seiner ausgezeichneten Qualität bei der experimentellen, eigenständigen Ausarbeitung zu einem vielschichtigen und immer aktuellen Thema – der Konversion von Industriebrachen – den 2. Preis zu.