Nichtoffener Wettbewerb | 12/2024
Neubau Ausstellungshaus Welt der Versuchungen in Erfurt
©Grüntuch Ernst Architekten
Perspektive Straße
Anerkennung
Preisgeld: 5.000 EUR
Schöne Neue Welt Ingenieure PartG mbB
Tragwerksplanung
Erläuterungstext
PRÄAMBEL
In der Welt der Versuchungen begegnet der Mensch vor allem sich selbst. In der Selbstbegegnung ringt das Himmlische mit dem Irdischen, das Göttliche mit dem Luziferischen, das Gute mit dem Bösen. Süchte sind Fluchträume, aus der Wirklichkeit in die Traumwelt. Der Illusion folgt der Wachmoment, die Scham und die nächste Flucht. Der Kreislauf der Abhängigkeiten beginnt von Neuem.
LEITIDEE
Das Ausstellungshaus spielt mit der Ambivalenz des Themas. Lesbar als selbstbewusstes Architekturobjekt genauso wie als angepasster Stadtbaustein, gleichermaßen fragil wie solide, scheu wie vorlaut, klar wie verschwommen. Bereit, den Ideen und Visionen rund um Sucht und Abhängigkeit künstlerischen und klärenden Ausdruck zu ermöglichen. Was sich nach außen als geheimnisvolle Schatztruhe nur schemenhaft offenbart oder ganz verschließt, zeigt nach innen eine geschützte Transparenz und Offenheit. Ein grüner Inselarchipel verbindet das Extrovertierte mit dem Introvertierten.
STÄDTEBAULICHE SITUATION & KUTBATUR
Das Ausstellungshaus stellt sich wie selbstverständlich in den vorgefundenen Stadtgrundriss, erinnernd an die ehemaligen Gebäudekanten. Zur Klärung des öffentlichen Raums fährt die Silhouette annähernd umlaufend die zulässigen Baugrenzen ab und trägt unaufdringlich zur Stadtreparatur bei. Zur prominenten Schauseite wird die Aufweitung der Straße „Am Hügel“ nach Osten mit dem neu geschaffenen Vorplatz, der trichterförmig den Eingang zur Altstadt markiert.
Westlich hingegen überspielt der Baukörper beiläufig die verkehrliche Infrastruktur zur Nachbarschaft, überlässt den Schau- und Wow-Effekt den historisch überlieferten Blockrändern nach Norden, Süden und vor allem Westen zum Altstadtring.
Der relativ großflächige Fußabdruck ermöglicht den Einschnitt eines passierbaren Innenhofs, der sich mit dem Atrium als Wintergarten zu einer üppigen lichten grünen Mitte formt. Nach außen präsentieren wir uns sicher und wehrhaft, nach innen offen und verletzlich. Zwischen Vorplatz und Innenhof erhebt sich bauplastisch erhaben eine skulpturale Intervention, die im Erdgeschoss auf ganzer Breite die einladende Verlinkung von Außen und Innen mit Zugang und Café vollzieht. Hier zelebriert das Haus der Versuchung die Schwelle, den Übergang, klar und eindeutig aber keinesfalls abschreckend oder drohend.
ARCHITEKTUR & NUTZUNG
Die Bereiche Café und Shop und der angeschlossene grüne Innenhof laden wohlwollend ein, unabhängig von den determinierten Angeboten ansonsten im Gebäude.
Durch die großflächige Setzung gelingt es dem Entwurf, das Programm auf nur zwei oberirdischen Geschossen zu realisieren (mit Garage, Lager und Technikflächen im Untergeschoss). Davon profitiert die Gestaltung des Baukörpers in seiner Erfahrbarkeit, Vernetzung und Übersichtlichkeit. Sorgfältig wird die einsehbare Dachfläche anspruchsvoll begrünt, der erhöhte Teil mit hochgezogener Attika verbirgt notwendige Technik aus den Sichtachsen und vor Nachbarblicken.
Die inhaltlich gewidmeten Räume des Foyers, der Seminarbereiche, der Verwaltung und Anlieferung mit entsprechenden Nebenzonen legen sich um die großzügige, jederzeit Orientierung vermittelnde offene Mitte. Auch die Kommunikation mit den frei zu bespielenden Ausstellungsflächen im Obergeschoss rotiert um das freie Zentrum. Geschossübergreifend werden Ein-, Aus- und Durchblicke gewährt, kann selbstbestimmt über Nähe und Distanz entschieden werden.
Das Atrium bildet das Herzstück des Gebäudes. Hier kreuzen sich die vielfältigen Nutzungen. Künstlerische, wissenschaftliche und Bildungsarbeit treten in lebhaften Kontakt mit den Besuchern. Teilhabe und gesellschaftlicher Zusammenhalt werden gefördert durch Konferenzen, Vorträge, Diskussionen und künstlerische Formate. Das Atrium steht im engen Kontakt zum Hof, Café, Foyer, den Seminarräumen und den Ausstellungsräumen. Es kann je nach Bedarf als Erweiterung der benachbarten Nutzungen angepasst werden oder ein separater, unabhängiger und repräsentativer Veranstaltungsort sein. Helle und hochwertige keramische Oberflächen helfen nicht nur, Überhitzung im Umfeld zu vermeiden, sondern umgeben die vermeintlich schweren Inhalten mit einer leichten, zugänglichen Atmosphäre.
RESÜMEE
Das Haus der Versuchungen möchte selbst auch verführen, verzaubern, illusionieren und dann den Moment des Bewusstseins nutzen, um Klarheit, Direktheit, Offenheit zu ermöglichen, frei von moralischer Mahnung und strafender Pein, ohne bloß zu stellen. Wir sind eingeladen, uns zu zeigen mit Stärken und Schwächen, mit Licht und Schatten, mit Beherrschung und Kontrollverlust.
FREIRAUMONZEPTION
Die Freiraumkonzeption zur „Welt der Versuchungen“ nutzt die wertvolle Lage an einem der bedeutendsten Zugänge zur historischen Altstadt Erfurts. Ziel ist es, das Quartier zu beleben und durch qualitätvolle, nachhaltige Gestaltung sowohl für Besucher:innen als auch für Anwohner:innen aufzuwerten sowie die Verbindung zur Altstadt zu stärken.
Außen
Die Straße „Am Hügel“ verbindet die Altstadt mit dem neuen Quartiersplatz. Hier werden die Beläge der Altstadt aus Naturstein aufgegriffen. Ein rhythmischer Wechsel von Stellplätzen und Baumrigolen mit kleinkronigen Klimabäumen prägt das Straßenbild. Der Übergang von Natursteinplatten zu Natursteinpflaster auf dem Platz signalisiert einen einladenden, multifunktionalen Quartiersplatz. Anregende Sichtbeziehungen zum neuen Ausstellungshaus und den begrünten organischen Schollen schaffen ein harmonisches Gesamtbild. Innerhalb der zarten vielfältigen Begrünung der markanten Mulden lenken farbliche Akzente mit sanften Gräsern das Augenmerk in Richtung des Innenhofes. Unterstrichen wird diese Betonung durch die geschwungenen Bänke, die zum Verweilen einladen. Neupflanzungen von Klimabäumen spenden angenehmen Schatten. Die organische gestalterische Formsprache wird auf der nördlichen Seite des Gebiets fortgeführt, wo ein Vogelrefugium integriert ist.
Innen
Das Thema der Verlangen und Süchte des Menschen prägt die gestalterische Verbindung nach innen. Im Innenhof entsteht im Vergleich zum offenen Quartiersplatz eine intimere Atmosphäre. Die Gestaltung lädt Besucher:innen ein, sich mit ihrer Innen- und Außenwelt auseinanderzusetzen. Eine flexible Möblierung am Café fördert ein interaktives, angenehmes Verweilen. Der Innenhof als Herzstück des Hauses ist Ursprung der durch den Freiraum fließenden begrünten Schollen und greift gestalterisch den Quartiersplatz mit sanftem Kies- und Naturstein Belag auf. Die lose interaktive Möblierung ermöglicht einen freien Bewegungsfluss und schafft eine harmonische Innenwelt, die sich mit flexibler Begrünung ins lichte Atrium fortsetzt.
Nachhaltigkeit und Regenwassermanagement
Neben der Verwendung heller Materialien und Diversität der Begrünung wird besonderer Wert auf Regenwassermanagement gelegt, was die nachhaltige Ausrichtung des Entwurfs betont. Im Sinne des Schwammstadtprinzips wird das Wasser von den aufgewerteten befestigten Flächen in die Baumrigolen und Mulden geleitet. Von der biodiversen Dachbegrünung mit Kräutern, Gräsern und Retentionsebene, läuft das Regenwasser in die Zisterne und die Rigolen im Innenhof. Das mikroklimatische Umfeld des Ortes profitiert von der damit einhergehenden Verdunstung.
TRAGWERKS- & NACHHALTIGKEITSKONZEPT
Das Tragwerkskonzept sieht einen hybriden Skelettbau vor, erschlossen und ausgesteift über die Kern- und Treppenhauszonen. Die Konstruktion des Untergeschosses erfolgt in Massivbauweise, vornehmlich aus Betonfertigteilen. Die Abdichtung der Bodenplatte und Außenwände erfolgt mit verschweißten Folienbahnen, die einen möglichen Rückbau im Sinne des zirkulären Bauens ermöglichen, alternativ ist das Untergeschoss in konventioneller WU-Bauweise ausführbar.
Die aufgehenden Gebäudeteile bestehen aus Betonfertigteilen. Hierzu wurde ein baulich einfaches und wirtschaftliches Tragraster im Einklang mit den flexiblen Grundrissfunktionen entwickelt. Traditionelle Geometrien von Kappendecken, bestehend aus Schalen und Balken in Massivbauweise, teilweise in sehr schlanker, mit Carbonbewehrung geplanter Ausführung, lassen sich unter dem zeitgemäßen Aspekt des kreislaufgerechten und ressourcenschonenden Bauens neu interpretieren. Entwicklungen automatisierter Fertigungen dieser Konstruktionslösungen ermöglichen mittlerweile die einfache und kosteneffiziente Vorfertigung mit den einhergehenden Vorteilen einer kurzen Bauzeit und Qualität. Im Sinne zirkulärer Konstruktionsansätze wird ein hoher Anteil mechanisch gefügter Elemente vorgesehen, eine einfache Fügung- sowie mögliche Demontage bildet damit einen übergeordneten Entwurfsgedanken. Die Ausrichtung der Deckenspannrichtung sowie Verortung der Unterzüge erfolgt unter Berücksichtigung der funktionalen Grundrissflexibilität sowie einheitlicher Deckenspannweiten, damit einer gleichmäßigen und statisch optimierten Materialisierung der Grundfläche.
Der vertikale Lastabtrag erfolgt von den Decken zu den Unterzügen und weiter zu den Stützen bzw. Kernwänden bis in die Gründung. Es wird von einem weitestgehend direkten Lastabtrag ausgegangen.
Die horizontalen Lasten werden durch die Kern- bzw. Treppenhauswände in Massivbauwiese aufgenommen. Die Ausführung der Massivbauteile kann im konstruktiven Einklang aus Fertigteilen erfolgen. Die schnelle Bauzeit, minimierte Lärmbelastung der angrenzenden Bewohner:innen durch die Baustellenaktivität sowie der konzeptionelle Grundansatz einer zirkulären Bauweise steht dabei im Vordergrund der Überlegungen. Die Weiterleitung der horizontalen Windlasten aus der Fassade an die aussteifenden Bauteile erfolgt über die aussteifenden Deckenscheiben des Gewölbeaufbaus. Die Decken werden hierzu schubsteif miteinander verbunden.
Durch die gewählte Fertigteilbauwiese des Gebäudes und der Erschließung lässt sich eine wirtschaftliche Umsetzung realisieren, die durch die strukturoptimierten Deckenlösungen den ökologischen Aspekt einer ressourcenschonenden Bauweise berücksichtigt, die grauen Emissionen deutlich reduziert und das Gesamtgewicht des Bauwerkes im Vergleich zu einer konventionellen Massivbauweise reduziert. Die materialgerechte Kombination ermöglichte ein baulich einfaches, kostenoptimiertes und marktgängiges Gesamtkonzept der tragwerkstechnischen Lösung. Dabei erlaubt die zirkuläre Konstruktionsweise eine konzeptionell flexible Nutzung, und Gestaltung der geschaffenen Raumstrukturen. Die Weiterverwertung von Gesteins-Rezyklaten sowie der bewusste Umgang mit der Fügung- und möglichen Entfügung verbauter Ressourcen sind aktiver Teil eines Beitrages zur Umsetzung kreislaufgerechter Konstruktionen.
Beurteilung durch das Preisgericht
Der Baukörper fährt mit dem notwendigen Abstand fast selbstverständlich die Straßenbegrenzungen im Norden, Westen und Süden nach. Nach Osten spannt sich ein großzügiger Vorplatz auf, der den Hauptzugang inszeniert. Dieser wird über einen auskragenden und in der Höhe über die übrige Bebauung hinausragenden Baukörper betont – die Adressbildung funktioniert sehr gut. Die Grüninseln vor dem Museum sind sinnvoll gesetzt und unterstützen den attraktiven Eingangsbereich. Sie schaffen einen transparenten und doch gut abgegrenzten Raum für die Besucher und das Café.
Der gesamte Bau behauptet sich selbstbewusst mit seiner klaren Fassadensprache in der heterogenen Umgebung des Huttenplatzes. Seine wahre Qualität aber zeigt sich im Inneren. Hier sieht das Preisgericht eine hohe Aufenthaltsqualität.
Nach außen präsentiert sich der Baukörper im Erdgeschoss als semitransparent und im Obergeschoss eher geschlossen. Die Ausstellungsräume im Obergeschoss öffnen sich komplett in den Innenhof und kommunizieren über die Hofflächen miteinander.
Dieser in den nur zweigeschossigen Baukörper eingeschnittene Innenhof ist zum Teil mit einem Glasdach geschlossen und damit Teil des Innenraums und teilweise ist es ein frei bewitterter Hof. Es ist das Herzstück des Ausstellungshauses und lässt eine freie Kommunikation über die beiden Ebenen zu. Auf Grund der Hofgröße und der nur zweigeschossigen Bebauung sind hier auch höhere Bäume gut vorstellbar.
Die aktuelle Anordnung von überdachtem Atrium und offenem Innenhof wird auf Grund der problematischen Zugangssituation als kritisch gesehen. Das Preisgericht rät hier zum Tausch. Auch wäre zu überlegen, ob die Erschließung ins Obergeschoss nicht auch über ein im überdachten Atrium geführtes Treppenhaus möglich ist, anstatt diese an der Außenfassade zu führen. Ebenso könnte das Foyer in das überdachte Atrium verschoben werden.
Die Zweigeschossigkeit des Baukörpers mit einer Höhe von 13 m trägt der nach Westen eng angrenzenden und mit Fenstern versehenen Fassade Rechnung. Das Preisgericht stellt dennoch die Frage, ob der niedrige Baukörper städtebaulich nicht etwas zu niedrig ist.
Funktional gibt es eine klare Trennung zwischen den Ausstellungsräumen im Obergeschoss und den Workshop-, Verwaltungs- und Serviceräumen im Erdgeschoss. Der Umlauf der Ausstellung im Obergeschoss funktioniert gut und bietet für das Ausstellungshaus der Welt der Versuchungen eine hohe Variabilität und Nutzungsflexibilität. Kritisch gesehen wird der hohe Grad der Versiegelung.
©Grüntuch Ernst Architekten
Perspektive Hof
©Grüntuch Ernst Architekten
Lageplan
©Grüntuch Ernst Architekten
Grundriss EG
©Grüntuch Ernst Architekten
©Grüntuch Ernst Architekten
©Grüntuch Ernst Architekten
©Grüntuch Ernst Architekten
©Grüntuch Ernst Architekten
©Grüntuch Ernst Architekten
©Grüntuch Ernst Architekten
Nutzungen
©Grüntuch Ernst Architekten
©Grüntuch Ernst Architekten
Tragwerkskonzept