Nichtoffener Wettbewerb | 07/2022
Neugestaltung der zentralen Fußgängerzone in Ulm
©Studio Maurermeier mit Terra.Nova / club L 94
Fußgängerperspektive mit Blick auf die Hirschstraße
1. Preis / Zur Realisierung empfohlen
Preisgeld: 36.400 EUR
Landschaftsarchitektur
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Verfasser:
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Mitarbeitende:
Visualisierung
Erläuterungstext
Der beste Zwirn für die gute Stube
Die Ulmer Fußgängerzone vom Bahnhof- zum Münsterplatz und vom Wengen- zum Fischerviertel ist der zentrale Freiraum und die verbindende Lebensader der Innenstadt. Besonders letzteres, der verknüpfende Leitgedanke wird zum zentralen Entwurfsprinzip. Demnach wird über ein eigenständiges, sich klar von der restlichen Kernstadt unterscheidendes Erscheinungsbild ein neuer räumlicher Zusammenhang geschaffen, der mit seinen Hauptachsen Nord mit Süd und Ost mit West gleichsam zu einem Gewebe zusammenbindet. Der ‘Ulmer Barchent‘ ist hierbei das charakteristische Grundelement. In Anlehnung an den für die historische Prosperität Ulms so wichtigen Webstoff, einem Mischgewebe aus Baumwoll-Schuss und Leinen-Ketten, auch als ’Ulmer Geld‘ bezeichnet, wird ein eigenständiger Stadtboden entwickelt. Dieser durchzieht die zentrale Fußgängerachse und hebt diese mit dem einzigartigen Markenzeichen ‘Ulmer Barchent‘ als exklusive innerstädtische Region und Handelslage besonders heraus:
Mit dem Ulmer Geld im Vers ist neben dem in Ulm geprägten und von Ulmer Handelsleuten und Bankiers reichlich verwendeten Münzgeld auch das gemeint, was den eigentlichen Reichtum Ulms ausmachte – der Barchent. Der nach strengster Prüfung mit dem Ulmer Siegel versehene Barchent bürgte für eine so außergewöhnlich hohe Qualität, dass er, da in ganz Europa begehrt, so gut wie Geld war. [Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Barchent]
Charakteristik, Resilienz und Wandelbarkeit
Grundsätzlich stellt sich die Frage der zukünftigen Ausrichtung und Bedeutung der Typologie ‚Fußgängerzone‘. Die Ausrichtung der zentralen Innenstadtlagen wird sich langfristig verändern und der Anteil an Dienstleistungen, Kultur-, Kreativ- und insbesondere Wohnnutzungen sich erhöhen. Um diesem Wandel gerecht zu werden müssen die ‚neuen Fußgängerzonen‘ im wahrsten Sinne des Wortes wandelbar und anpassungsfähig konzipiert werden, da sie nicht nur dem bisher primären Ziel der Konsolidierung der Konsumfähigkeit entsprechen dürfen.
Vielmehr rücken neben der Handels- insbesondere Kommunikations-, Sozial- und Klimafunktionen in den Vordergrund. Damit einher geht der Wandel von monostrukturierten Durchgangs- zum qualitätvoll ausgestalteten und ausgestatteten Aufenthaltsräumen.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche planerischen Faktoren diese Veränderungsprozesse begünstigen? Sicherlich wird neben einem eindeutigen konzeptionellen Ansatz ein bestimmtes Maß an planerischer Unbestimmtheit notwendig, welche langfristige Spielräume für konkrete Ausgestaltung ermöglicht, ohne jedoch den gestalterischen Grundansatz in Frage stellen zu müssen.
Demzufolge schlagen wir ausgehend von der angestrebten eindeutigen Lesbarkeit des Stadtbodens als zusammenhängendes Gewebe in einem zweiten Schritt eine weitere Klassifizierung von Teilarealen, den Haupt- und Nebenachsen vor. Ausschlaggebend hierfür ist deren räumliche Ausgangssituation sowie Lage im Stadtraum. Die zentrale Achse vom Bahnhofs- zum Münsterplatz erhält hierbei durch eine weitere, feine Differenzierung des Stadtbodens gepaart mit einem hohen Grünanteil in Form locker verteilter Bäume eine Gliederung in Mittelzone und Seitenbereiche. Die Seitenbereiche nehmen die geschäftsnahen Funktionen wie Auslagen oder erdgeschoß- bezogene Freisitze in einer schmalen Spur entlang der Fassaden auf. Die Mittelzone ist flexibel für die Anordnung von Verweilzonen, weiteren Gastronomiebereichen oder Sekundärbegrünungen.
Die Nebenachsen erhalten dichte lineare Baumlinien und unterscheiden sich somit klar von der Hauptachse. Eine Sonderstellung nimmt hierbei die Glöcklerstraße ein. Unter Berücksichtigung des Baumbestandes wird dieser zu einem großen Schatten spendenden Baumdach zusammengeführt. Eine großzügige Bachöffnung stellt den spezifischen Ortsbezug und die verloren gegangene Präsenz der Großen Blau wieder her. Auf natürliche Weise wird mit der ‚Blautreppe‘ das Thema Wasser inszeniert und verleiht diesem Bereich einen besonderen, identitäts- stiftenden Impuls.
Grün verbindet - Grüne Meile und Grüner Salon
Eine möglichst starke Durchgrünung mit bodengebundenen Baumstandorten gebündelt mit Regenrückhalt im besten Sinne der Schwammstadt leistet langfristig einen wertvollen Beitrag um negativen Auswirkungen des Klimawandels in stark versiegelten Innenstadtlagen entgegen zu wirken und gleichzeitig den Wohlfühl- und Aufenthaltscharakter deutlich zu positivieren. Mit der ‚Grünen Meile‘ in Bahnhof- und Hirschstraße und dem ‚Grünen Salon‘ in der Glöcklerstraße werden dem Entwurfskonzept entsprechend zwei grundsätzlich verschiedenartige Begrünungstypologien entwickelt. Die ‚Grüne Meile‘ unterstreicht als baumbestandene Spur hoch aufgeasteter Zukunftsäume wie Celtis australis (Zürgelbaum) oder Gleditsia triacanthos ‚Skyline‘ (Dornenlose Gleditschie) die Linearität der Hauptachse. Im Sinne der Resilienz, sind die Baumstellungen flexibel gedacht und können auf technische (unterirdischer Bauraum), nutzungsspezifische (Feuerwehr, Gastronomie, etc.) oder stadträumliche (Blickbeziehungen) Erfordernisse reagieren bzw. werden langfristig Nachverdichtungen ermöglicht. Im Gegensatz hierzu bietet der ‚Grüne Salon‘ eine komplett gegensätzliche Raumerfahrung. Hier steht nicht das Thema des Aufenthalts zwischen, sondern unter Bäumen im Vordergrund. Eine große Baumhalle überspannt einen zusammenhängenden und flexibel nutzbaren (z.B. Boule, Sommerbestuhlung, etc.) Bereich aus wassergebundener Decke. Dieser wird durch eine kleine Bühne, zugleich als multifunktionales Sitz- und Liegepodest nutz- bar, im Bereich der erhöht stehenden Bestandsbäume ergänzt. Stadträumlich verbinden die dreidimensionalen Baumvolumen Seiten- und Nebenachsen gleichermaßen und unterstreichen den verbindenden Leitgedanken.
Materialität ’Ulmer Barchent‘
Für Haupt- und Seitenachsen wird zunächst eine einheitliche Materialität aus hellem Granit (gräulich bis röt- lich) mit günstigem Albedo-Wert verwendet. Die Verlegeweise erfolgt gebunden in Reihe mit unterschiedlichen Bahnbreiten. Entlang der Gebäudesockel wird ein umlaufender Saum geführt, der Rück- und Vorsprünge sowie Eingangszonen aufnimmt und einheitliche Anschlüsse für die anschließenden Plattenbänder ermöglicht. In Anlehnung an den ‚Ulmer Barchent‘ werden wechselweise hellere und dunklere Bänder über die gesamten Straßen- breiten geführt. Eine Besonderheit stellt die Mittelzone der Hauptachse dar. Sie erhält durch eine spezielle Oberflächenbearbeitung eine gegenüber dem übrigen Stadtboden je nach Belichtungsverhältnissen, Blickrichtung und Tageszeit weniger oder stärker wahrnehmbare Varianz. Hierfür werden, wie dies für die Webstruktur typisch ist, je Plattenband wechselnde Diagonallinien mittels Rillierung in die Oberflächen eingearbeitet. Sie sind Aus- druck der einzigartigen Charakteristik des Ulmer ‚Fußgängerzonenbarchents‘.
Raum und Licht
Dem Entwurfsduktus entsprechend erfolgt lichttechnisch ebenso eine differenzierte Betrachtung von Hauptachse und Seitenachsen. Die Konsequenz der ‚Grünen Meile‘ als lineares Band locker gestellter Großbäume findet ihre Fortführung im Beleuchtungskonzept. Punktuell abgehängte, opake Leuchtenzylinder in freier Anordnung unterstützen die spielerische Grundordnung. Aufgrund des leicht geschwungen Stadtraums vereinzeln oder verdichten sich die Lichtpunkte und geben wechselnde Ausblicke in den Stadtraum frei. Die Lichtspur unterstützt auch in den Abend- und Nachtstunden die angestrebte Verbindung- und Lenkungsfunktion vom Bahnhof- zum Münsterplatz. Die Seitenachsen werden ihrer Nutzung entsprechend mit konventionellen Lichtstelen ausgestattet. Diese folgen dem Duktus der Baumstellungen und werden ebenso seriell angeordnet. Die besondere Atmosphäre des ‚Grünen Salons‘ wird über eine Anstrahlung des Blätterdachs nächtlich inszeniert und unterstützt auf diese Weise die angestrebte hallenartige Raumsituation. Die beschriebenen Grundbeleuchtungen wird über wenige effektvolle Ausleuchtung der punktuellen Attraktoren wie Brunnen, Wasserspiel, Blautreppen und der drei Stadtloungebereiche (Münster-Blaue- und Baumlounge) spezifisch unterstützt. Sämtliche Lichtelemente werden insektenfreundlich mit Lichtintensitäten kleiner/ gleich 2800K ausgestattet. Die Lichtsysteme erhalten eine hochwertige Entblendung. Generell wird die Farbwiedergabestufe 1/sehr gut eingesetzt.
Eine hohe Lichtausbeute gepaart mit hohen Leuchtenwirkungsgraden ermöglicht einen wirtschaftlichen Betrieb. Zeitabhängige Milieuschaltungen führen dazu, dass in den Abend- und Nachtstunden die Beleuchtung in Stufen reduziert wird (Erscheinungsbild, Wirtschaftlichkeit), dabei aber die objektive und subjektive Sicherheitsanforderungen erhalten bleiben. Wenig Substantielles wird notwendig um auch in den Abend- und Nachtstunden eine angemessene Atmosphäre und Wirkung auf den Flaneur in der zukünftigen Ulmer Fußgängerzone auszustrahlen.
Beurteilung durch das Preisgericht
Mit dem klaren Konzept, die „Grüne Meile“ der Fußgängerzone als eigenständigen und kraftvollen Freiraum parallel zur „Blauen Meile“ der Großen Blau zu entwickeln, gelingt es den Verfassern, eine zugleich stadträumlich überzeugende als auch zukunftsweisende Vision für diesen zentralen und bedeutenden Freiraum im Herzen Ulms zu entwerfen.
Die Bündelung aller gewünschten Funktionen (Verweilen, Gastronomie, Spiel etc.) in einer Mittelzone, die sich den Hauptfußgängerströmen entzieht, kann das Preisgericht überzeugen und verspricht, auf sich zukünftig möglicherweise wandelnde Gebäudenutzungen und Anforderungen an den Freiraum flexibel reagieren zu können. Eine vergleichbare Flexibilität verspricht auch die Setzung der überdurchschnittlich vielen neuen Bäume innerhalb dieser Mittelzone, wenngleich diese zumindest streckenweise mit dem heutigen Stand der Leitungsplanung kollidiert. Inwiefern die Leitungsplanung auf die geplanten Baumstandorte angepasst werden kann, müsste im weiteren Verlauf geprüft werden. Die Qualität, die die Vielzahl an zusätzlichen Bäumen für den Aufenthalt und das örtliche Kleinklima verspricht, lassen den hierfür notwendigen Aufwand aus Sicht des Preisgerichts jedoch angemessen erscheinen.
Qualitätsvoll und angemessen erscheint auch der Vorschlag für die Gestaltung der Beläge als durchgängigen Stadtboden aus Naturstein, der über die Mittelzone hinweg den Stadtraum von Fassade und Fassade aufspannt. Dezente diagonale Rillierungen im Mittelbereich verweisen auf den Ulmer Barchent und bilden damit einen wirkungsstarken aber gleichzeitig unaufdringlichen Bezug zur Ulmer Stadtgeschichte.
Wohltuend reduziert ist der Umgang mit künstlichen Wasserelementen innerhalb der Fußgängerzone. Mit dem einzigen Wasserelement in Form einer Fontänengruppe an der Einmündung der Glöcklerstraße in die Hirschstraße erscheint dafür von den Verfassern der richtige Ort gewählt. Ziel der Verfasser ist es aber vielmehr, die vorhandenen natürlichen Wasserqualitäten zu erschließen, indem eine Öffnung der Blau im Bereich der Glöcklerstraße vorgeschlagen wird, an der über Stufen der Zugang zum Wasser ermöglicht werden soll. Die Einbindung dieser Gewässeröffnung in eine grüne Baumhalle, die das vorhandene Platanendach in der Glöcklerstraße fortsetzt, erzeugt eine eigenständige freiräumliche Qualität für diesen derzeit vergleichsweise stark von Verkehrsfunktionen geprägten Teil der Innenstadt. Dabei muss jedoch davon ausgegangen werden, dass die Umsetzung der Blau-Öffnung auf Grund des massiven Eingriffs in die bestehende Brückenkonstruktion kurzfristig nicht realistisch erscheint.
Die Differenzierung der vorgeschlagenen Baummotive - Baumhalle aus Hochstämmen in der Glöcklerstraße und lichter Baumhain aus mehrstämmigen, eher schirmförmigen Bäumen in der Fußgängerzone - kann ebenso wie der Vorschlag, das Niederschlagswassers zur Bewässerung der neuen Bäume zu nutzen, überzeugen.
Gleichwohl könnte aus Sicht des Preisgerichts vor dem Hintergrund der gewünschten Integration des vorhandenen Baumbestands über eine stärkere Durchmischung von ein- und mehrstämmigen Gehölzen sowie zu den Bestandsplatanen passenden Baumarten in der Fußgängerzone nachgedacht werden. In diesem Zusammenhang wäre auch nachzuweisen, wie die derzeit erhöht stehenden Bäume in der Fußgängerzone zukünftig topografisch in das Gelände eingebunden werden sollen.
Das Lichtkonzept aus Überspannungsleuchten in der Fußgängerzone und Mastleuchten in den daran angrenzenden Seitenräumen unterstützt auch in den Abendstunden den Entwurfsansatz, Stadträume unterschiedlicher Atmosphäre entstehen zu lassen. Die Vorschläge zur Lichtfarbe und zur stufenweisen Anpassung der Beleuchtungsstärke in den späteren Nachtstunden lassen auch in diesem Bereich das ökologische Bewusstsein der Verfasser erkennen.
In Summe handelt es sich um einen Beitrag, der eine hochattraktive und zukunftsweisende Vision für eine atmosphärische und ökologische Neuinterpretation der städtischen Fußgängerzone entwirft, die ein starkes Aufbruchsignal an die Stadtgesellschaft aussenden kann und die verspricht, flexibel und anpassungsfähig auf eine zumindest in Teilen noch unbekannte Zukunft reagieren zu können.
©Studio Maurermeier mit Terra.Nova / club L 94
Fußgängerperspektive mit Blick auf die Hirschstraße
©Terra.Nova / club L 94
Lageplan, 1:500
©Terra.Nova / club L 94
Detailplan, 1:200
©Terra.Nova / club L 94
Detailschnitt
©Terra.Nova / club L 94
Übergeordnetes Konzept
©Terra.Nova / club L 94
Konzeptdiagramm
©TERRA.NOVA Landschaftsarchitektur
Präsentationsplan 01
©TERRA.NOVA Landschaftsarchitektur
Präsentationsplan 02
©TERRA.NOVA Landschaftsarchitektur
Präsentationsplan 03