Nicht offenes städtebaulich-hochbauliches Wettbewerbsverfahren | 09/2024
Weiterentwicklung Weender Tor in Göttingen
©RenderAtelier
Visualisierung Weender Tor
1. Preis
Preisgeld: 25.000 EUR
Stadtplanung / Städtebau, Architektur
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Verfasser:
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Mitarbeitende:
nsp landschaftsarchitekten stadtplaner PartGmbB schonhoff schadzek depenbrock
Landschaftsarchitektur
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Verfasser:
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Mitarbeitende:
Reitz & Pristl Ingenieurgesellschaft mbH
Tragwerksplanung
Visualisierung
Erläuterungstext
Städtebauliches Konzept und Typologie
Dialog zwischen Neubau und Bestand
Die Weiterentwicklung des Grotefend-Areals formt einen sensiblen neuen Stadtbaustein am Weender Tor, der den Geist des Bestehenden aufnimmt, weiterführt und einen spannungsvollen Dialog zwischen Alt- und Neu entstehen lässt. Gleichzeitig entsteht ein modernes, prägendes und grünes neues Quartier am Göttinger Stadtwall.
Solitäre außerhalb des Walls
Das Entwicklungskonzept sieht drei eigenständige Gebäudekörper vor, die dem Beispiel der vorhandenen Solitärbaukörper der Wallvorfeldbebauung folgen. Zwischen den Baukörpern entstehen klar definierte Fugen, die zum einen die räumliche Präsenz des zurückliegenden Stadtwalls von der Berliner Straße herstellen, zum anderen den erforderlichen Schutz für die dahinterliegende Wohnnutzung gewährleisten.
Weitergebaut
Der vorhandene Baukörper der alten Grotefend-Fabrik wird in seiner Typologie und Bedeutung für den Standort aufgenommen und mit einem aufgesetzten sechsgeschossigen Eckgebäude in Holzhybrid-Bauweise weitergeführt.
Die Konturen der Bestandsbebauung bleiben, unter anderem durch die freigestellten Trauf- und Eckabschlüsse, erhalten. Ein auskragendes Flugdach fasst die unterschiedlichen Gebäudekonturen zu einer Einheit zusammen.
Typologische Weiterführung
Typologisch werden die prägenden Charakteristika der 50er-Jahre Architektur der Grotefend Bebauung respektiert und in einer modernen Architektursprache und -bauweise weitergeführt (Holzhybrid vs. Stahlbetonskelett, Flugdach und Fensterproportionen als verbindende Elemente).
Setzung der Hochpunkte
Durch die Setzung des Eckbaukörpers entsteht ein prägender Gebäudeabschluss nach Norden sowie ein starker baulicher Impuls in Richtung Berliner Straße. Folgerichtig entsteht ein städtebaulicher Hochpunkt, der die vorhandenen Hochpunkte im unmittelbaren Kreuzungsbereich einbindet und diese in einen spannungsvollen Dialog treten lässt.
Verbindende Horizontale
Hervorspringende horizontale Geschossgesimse, in denen z.B. die Sonnenschutzanlage integriert werden, verbinden die drei Solitärbaukörper und lassen Sie - trotz ihrer unterschiedlichen Anmutung – als bauliches Ensemble wirken.
Ruhige Wohnsolitäre mit zwei unterschiedlichen Seiten
Die beiden L-förmigen Wohngebäude ergänzen die städtebauliche Kette der 3 Solitäre ruhig und souverän und erinnern in ihrer straßenseitigen Anmutung und Gliederung ein wenig an die vorhandene monolithische Villenbebauung an anderen Stellen der Wallvorfeldbebauung. In ihren straßenabgewandten Fassaden (nach Süden und Westen) lösen sich die horizontalen Geschossbänder zu leichten, offenen und grünen Wohnbalkonen auf.
Wallseitig entsteht so, auch bedingt durch die Reduzierung um 2 Vollgeschosse, eine maßvolle und leichte Wohnatmosphäre mitten im Grünen.
Modellierung der Topografie
Durch das Anheben der Topografie zwischen den neuen Baukörpern und der Wallstützmauer kann die Höhe der Stützmauer um mehr als die Hälfte reduziert werden, so dass ein harmonischer Übergang zwischen Wohngärten und Stadtwall erreicht wird.
Überdies können mit der Anhebung des Wallvorbereichs weitere zuträgliche Faktoren erreicht werden:
- klare Differenzierung von öffentlichem und privaten (resp. halböffentlichen) Raum
- Adressierung der Gebäude: Ausbildung von kleinen Taschenplätzen
mit Baum und Sitzbank als Entrée für die Wohnhäuser
- klare Differenzierung Wohnen / Gewerbliche Nutzung durch Höhenversatz
- attraktive private Wohngärten
- ausreichend Substrataufbau für intensive Bepflanzung
- Höhenvermittlung Tiefgarageneinfahrt
- Wirtschaftlichkeit: höheres Gründungsniveau TG, weniger Erdaushub
Freiraum
Die Außenanlagengestaltung verfolgt das Leitmotiv „Haus im Garten“ und bietet qualitativ hochwertige und differenzierte Außenräume für die Bedürfnisse der künftigen Nutzergruppen. Durch die eigenständige Gestaltsprache und die vegetativ geprägten Freiräume entsteht ein wichtiger Trittstein in den Grünen Infrastruktur der Göttinger Innenstadt. Die historischen Wallanlagen und der botanische Garten werden aufgegriffen und am Heinz-Erhardt-Platz sowie in den Wohngärten thematisch weitergeführt.
So entsteht ein positiver Beitrag zum klimaresilienten Städteumbau und das Weender Tor wird in seiner Bedeutung als mittelalterlicher Stadteingang hervorgehoben.
Die „Grüne Pforte“ fügt sich wie selbstverständlich in die Mitte zwischen Auditorium und Neunbau-Ensemble ein und erzeugt einen spannenden Kontrast zu den umliegenden Anlagen. Das Blätterdach der raumprägenden Gehölze bestärkt den Ort in seiner Besonderheit und lässt an heißen Tagen eine angenehme klimatische Situation entstehen.
Charakteristisch für die Wohnhöfe ist der fließende Teppich aus wertigem Betonstein der die Wohnungseingänge und Wegeverbindungen zu einer gestalterischen Einheit zusammenzieht und sich regelmäßig zu kleinen Plätzen aufweitet. Den Erdgeschosswohnungen werden Terrassengärten zugeordnet die von Heckenstrukturen gegliedert werden um Rückzug und Privatsphäre zu gewährleisten. Durch die Gliederung in thematische Inseln wie Spiel und gemeinschaftliches Gärtnern entsteht in den Höfen eine facettenreiche Spiel- und Wohnlandschaft.
Im Rahmen der Außenraumgestaltung wird ein möglichst hoher Grünflächenanteil angestrebt, um den lokalen Wasserhaushalt an natürlichen Kreisläufen orientieren zu können.
Die vegetativen Elemente und die spezifische Gestaltung der Flächen lassen private und gemeinschaftliche Orte entstehen die Sicherheit und Übersichtlichkeit gewährleisten.
Durch das Zusammenspiel von Architektur und Freianlagen entsteht ein eigenständiges Ensemble, ein Miteinander vielfältiger Angebote und Nutzungen, welche einen Ort prägender Charakteristik im Quartier entstehen lassen.
Resilienz, Nachhaltigkeit, Zertifizierung
Die Weiterentwicklung am Weender Tor nimmt die Geschichte an dieser für die Stadt bedeutsamen Stelle auf und erzählt diese - nun mit den Themen der Gegenwart- weiter. Es entsteht ein selbstbewusster, robuster und wertiger neuer Stadtbaustein der diesen Ort für die nächste Zeitepoche zeitgemäß prägen wird.
Aus robusten Materialien und hochwertigen Verfahren hergestellte Bauprodukte gewährleisten Langlebigkeit.
Die Gebäude werden in Holzhybridbauweise vorgeschlagen. Die Verwendung von regionalen Baustoffen vermeidet lange Transportwege und trägt zur Schonung des Klimas bei.
Die weitestgehend vorgefertigten Gebäudeelemente aus Holz, Stahl und Faserbeton lassen sich bei neuen Nutzungsansprüchen demontieren und wiederverwenden oder recyceln. In der Kombination mit Niedrigenergielösungen, wie beispielsweise natürlicher Belüftung, guten Tageslichtverhältnissen und teils sich selbst verschattenden Fassaden (Südwestseiten Wohngebäude) werden die Kohlendioxidemissionen erheblich reduziert.
Neben der Recyclingfähigkeit und Materialherkunft wird auch der Aspekt des CO2-Fußabdrucks bei Materialwahl und Konstruktion berücksichtigt.
Photovoltaik auf den Dachflächen sorgt für die regenerative Produktion von elektrischer Energie mit einem möglichst hohen Eigenverbrauchsanteil, wodurch weitere Betriebskosten eingespart werden können. Durch tageslicht- und präsenzabhängige Regelung der Beleuchtung und der Nutzung von LED-Leuchten wird der Energiebedarf der Beleuchtung wirksam reduziert. Das Ziel einer zeitgemäßen Energieeffizienz wird ebenfalls durch den Einsatz bewährter technischer Mittel wie Wärmepumpe (Grundwasser) und solare Brauchwassererwärmung erreicht. Eine sehr gute ÖPNV-Anbindung, Car-Sharing, E-Bike-Ladestationen, komfortables und sicheres Fahrradparken sowie das attraktive Rad- und Fußwegenetz stellen ein nachhaltiges und zukunftsorientiertes Mobilitätskonzept dar.
Die kompakte, gut gedämmte und klare Struktur der Neubauten mit robusten Oberflächen im Zusammenhang mit einem effizienten Energiekonzept verspricht eine sehr wirtschaftliche Herstellung und geringe Kosten für den Betrieb der Gebäude.
Übergeordnetes Ziel: klimaneutraler Betrieb
Die übergeordnete Idee der Neubauten basiert auf der konsequenten Reduzierung des Energie- und Leistungsbedarfs für Strom und Wärme, dem Einsatz reduzierter aber innovativer Gebäudetechnik, der passiven und aktiven Nutzung von Sonnenenergie und dem Stromlastmanagement.
Beurteilung durch das Preisgericht
Unter der Maßgabe einer passgenauen und würdigenden Integration der filigranen Bestandsgebäude schlägt diese Arbeit auf dem Grundstück eine Konfiguration eines Gesamt-Ensembles bestehend aus 3 Entitäten vor, die sich L-Förmig - ausgehend vom Weender Tor - in die Tiefe des Grundstücks entlang der Berliner Straße hineinstaffeln. Diese Setzung generiert 3 attraktive Gärten, bzw. Höfe, die sich mit den Gebäuden großzügig verzahnen.
Gleichzeitig werden durch einen topographischen Eingriff diese Gartenbereiche um 1.35 m erhöht zur Berliner Straße angelegt – fast wie ein Botschafter des Walls, eine treppenartige Vorverlegung der Topographie des Walls an die Eingangsbereiche an der Straße. Dadurch entsteht ein differenziert gestalteter Übergang vom öffentlichen Bereich in die privaten Gärten des Grundstücks bei Beibehaltung attraktiver Einblicke in den rückwärtig gelegenen historischen Wallbereich.
Dem Ensemble gelingt insgesamt ein multipler Dialog mit dem städtebaulichen Umfeld, der seitens der Jury besonders gewürdigt wird:
1. Das wohlproportionierte turmartige Landmark-Building am Kopf des Ensembles spannt Beziehungen auf zu den bereits existierenden vertikalen Protagonisten rund um den Heinz-Erhardt-Platz und behauptet sich wohl in diesem räumlichen „Konzert“.
2. Die Abstaffelung der 3 Entitäten des Ensembles – einerseits entlang der Berliner Straße, andererseits in Richtung Wall kreieren jeweils selbstverständliche Einbindungen in existente Horizonte und Traufhöhen (Auditorium Maximum, Bestandsgebäude am Wall) und überfrachten den Standort in seinem Charakter nicht.
3. Durch eine differenzierte Ausbildung der 3 Fassaden zur Berliner Straße wird der „Solitärcharakter“ der „Bauten am Ring““ als Thema mit Variation im Ensemble weitergedacht.
Die programmatische Aufteilung in den 3 Entitäten erfolgt mit großer Klarheit. Die neuen Adressbildungen erfolgen alle von der Berliner Straße aus, mit 3 neuen Erschließungskernen werden alle neuen Räume, Wohnungen, Büros, verhältnismäßig effizient und räumlich attraktiv erschlossen, im EG auch die unterschiedlich programmierten Gärten.
Die strukturelle Ordnung und konstruktive Logik erscheinen gut umsetzbar, die Wohnungen sind (mit kleinen Kritiken seitens der Jury) in ihren Grundrissen gut angelegt, die den Wohnungen zugeordneten Außenräume, Balkone, Dachgärten sind sinnfällig gen Süd und West mit Blick in die grüne Wallanlage adressiert.
Bei aller positiven Würdigung vorab, ist jedoch die gewünschte BGF und damit die seitens der Stadt gewünschte neue Wohnfläche noch nicht abgebildet. Dieser Sachverhalt wird seitens der Jury kritisch diskutiert. Die Arbeit bietet im Wettbewerbsverhältnis die ungünstigste Bilanz und scheint in ihrer möglicherweise zu subtilen, vorsichtigen Anpassung an den Standort momentan noch nicht wirtschaftlich ausgelotet.
Die städtebauliche, skulpturale Konfiguration, die ablesbare Qualität der Außen- und Innenräume sowie die architektonische Erscheinung & Atmosphäre dieses Projektes scheinen jedoch in ihren jeweiligen Ordnungen derart robust, dass ein Ausloten weiterer Verdichtung bei Beibehaltung der mit diesem besonderen Konzept intendierten und zum Ausdruck gebrachten und gewürdigten Qualitäten gewünscht wird.
©pape+pape/nsp
Situation
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Städtebauliches Konzept
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©pape+pape/nsp
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©modellwerk weimar
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