Andreas Hofer eilt mit großen Schritten und wehendem Halstuch über die Rathenaustraße im Stuttgarter Norden. Vor dem Haus mit der Nummer 1 hält er kurz inne, lässt seinen wachen Blick einmal über die schneeweiße geradlinige Fassade streifen, atmet tief ein.

Wie viele Male der Intendant der IBA ’27, der Internationalen Bauausstellung 2027 in Stadt und Region Stuttgart, das Le Corbusier Haus in der Weißenhof-Siedlung bestaunt hat, kann er nicht sagen. „Auf jeden Fall sehr oft“, meint der Schweizer Architekt, der jetzt mit seinen bequem aussehenden Schuhen mitten auf der schmalen Grünfläche auf der anderen Straßenseite steht. Von hier hat man einen guten Blick auf einige der noch stehenden Bauten der Weißenhof-Siedlung, dem zentralen Element der Internationalen Bauausstellung von 1927. „Das war eine große Chance für Stuttgart, die Architekten haben damals mit den Hufen gescharrt, um etwas Neues zu zeigen.“ Hofer wirkt fast ein wenig neidisch auf diese Zeit mit ihrer Aufbruch- und Widerspruch-Stimmung.

Und er zollt dem damaligen künstlerischen Leiter der IBA, Mies van der Rohe, großen Respekt. „Es ist schon verrückt, wie sehr diese kleine Wohnsiedlung am Stadtrand die Architekturgeschichte beeinflusst hat.“ Es sei eine sehr kluge Entscheidung von Van der Rohe gewesen, einzelne Bauten, die auch für sich eine Aussage haben, geschickt zu einer Anlage zu verbinden. „Durch diese Ambivalenz von Typenhaus und so etwas wie einem Stadtteil ist es gelungen, diese große und heute kulturhistorische Kraft zu entfalten.“ Und die spüre man hier in der Weißenhof-Siedlung auch heute noch.

Andreas Hofer vor dem Le Corbusier Haus in der Weißenhof-Siedlung, Stuttgart

Andreas Hofer vor dem Le Corbusier Haus in der Weißenhof-Siedlung, Stuttgart

Daher ist dieser Ort für Hofer auch mehr als ein Referenzpunkt. „Er ist Ausgangspunkt dessen, was wir tun“, betont der aktuelle IBA-Intendant, der eine ungezwungene Jackett-Pulli-Jeans-Kombi in Grau- und Brauntönen trägt. Er wendet seinen Blick vom grünen Hang unterhalb der Siedlung über den Stuttgarter Kessel und zeigt mit einer lässigen Armbewegung auf dessen dichte Bebauung. „Das ist jetzt unser Spielfeld: Hier möchten wir mit der IBA ’27 und unserer Arbeit etwas bewirken, mit den Projekten und Bauten einen Beitrag leisten, der auch international gesehen wird.“

Keiner, der ständig seine Pläne ausbreitet

Aber was genau hat Andreas Hofer in Stuttgart und der Region vor? Als er Anfang 2018 zum künstlerischen Leiter der IBA ’27 gewählt wurde, war sein Name nicht allen in der Branche bekannt. Wer ist dieser Mann aus Zürich, was sind seine Pläne, fragten und fragen sich viele.

Einige meinen, er sei ein Typ, der sich nicht gerne in die Karten gucken lasse. Der keine konkrete Liste mit Arbeitspunkten, durchnummerierte Pläne oder ausdifferenzierte Anforderungen für Bewerber und ihre Projekte vorlegt. „Sie müssen doch jetzt die drei wichtigen Sätze, die Slogans, Themen und Ziele für die Ausstellung formulieren. Und danach dann die Projekte auswählen.“ Solche Aufforderungen hörte Hofer nach seiner Wahl immer wieder von verschiedenen Seiten. „Dabei ist eines meiner wichtigsten Anliegen, genau das nicht zu tun. Ich möchte ohne Liste loslegen und das Ganze als einen Entwicklungsprozess sehen, der eine eigene Dynamik entwickelt und in dem wir lokale Qualitäten und Personen integrieren, die uns weiterbringen.“

Vita Andreas Hofer

Der 1962 in Luzern geborene Andreas Hofer studierte Architektur an der ETH Zürich, wo er 1989 sein Diplom erhielt. Seither beschäftigt sich der Schweizer mit der Entwicklung von urbanen Räumen und Industriearealen. 1993 wurde Hofer Partner des Planungs- und Architekturbüros Archipel in Zürich und engagierte sich intensiv für den gemeinschaftlichen, nachhaltigen und preisgünstigen Wohnungsbau. Als Mitbegründer und Projektleiter der Genossenschaften „mehr als wohnen“ und Kraftwerk1 war er maßgeblich an der Entwicklung und Renaissance des genossenschaftlichen Wohnungsbaus in Zürich beteiligt. Zu seinen Themen lehrte der Architekt zudem an der ETH, der Hochschule für Technik Rapperswil und an der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Hofer gilt als Experte für neuartige Planungsstrategien, partizipative Prozesse und als visionärer Macher. Seine Vorstellungen von Architektur-, Städtebau- und Wohnungsfragen bringt er regelmäßig als Berater, Jury-Mitglied, Gutachter, Redner und Publizist an die Öffentlichkeit. Anfang 2018 wurde er aus 60 Bewerberinnen und Bewerbern einstimmig vom Aufsichtsrat der Internationalen Bauausstellung IBA 2027 StadtRegion Stuttgart zum Intendanten gewählt.

Weiterbringen heißt für den 57-Jährigen aber nicht, dass er mit seiner IBA umfassende Lösungen für die aktuellen Themen liefert: bezahlbaren und ausreichenden Wohnraum, Nachhaltigkeit, Mobilität. Der Architekt und Genossenschaftsgründer betont, dass eine Bauausstellung nicht dafür da sei, diese Probleme zu lösen. Und sie könne es auch gar nicht. Als künstlerischer Leiter pocht Hofer darauf, dass die Disziplin der Architektur im Fokus der IBA steht – konkret: einzelne Beispiele der Architektur, die aber in der Lage sein sollen, analog zur Weißenhof-Siedlung weitreichende Impulse zu setzen.

Natürlich könne und wolle man zeigen, wie Zukunftsmodelle für das Leben, Wohnen und Arbeiten in der globalisierten, digitalisierten Welt von heute aussehen können, sagt Hofer. „Die IBA ist aber kein Instrument der Bodenreform. Die IBA ist auch kein Bestandteil der Automobilindustrie. Und sie sollte kein Spielball von politischen oder wirtschaftlichen Interessen sein.“

„Soziale Räume brauchen soziale Dichte“

Wenn man genau hinhört, lassen sich bei Hofers teilweise philosophischen Ausführungen schon ein paar Punkte festmachen, die ihm wichtig sind, auf die er konkret ein Augenmerk legt.

Da ist zum einen die Herausforderung, sich bei dieser IBA nicht nur mit der Zukunft einer Stadt, sondern auch mit der möglichen strukturellen und baulichen Zukunft einer Region, dem Umland, auseinanderzusetzen. Gerade hier braucht es seiner Meinung nach eine gute, dichtere Bebauung. Wie sie schon heute zum Beispiel auf der Filderebene, im Scharnhauser Park zu finden sei. „Soziale Räume brauchen soziale Dichte, damit Öffentlichkeit entstehen kann“, erklärt der Architekt und kritisiert damit das deutsche Baugesetz. Das atme den Geist der Funktionstrennung: möglichst nichts miteinander zusammenzubringen, sondern stets auf größtmöglichen Abstand zu pochen. „Ich denke, wenn wir Wohnen, Arbeiten, sich Bewegen und Treffen wieder stärker zusammenbringen, können wir Städte und Regionen viel interessanter machen.“

Andreas Hofer in der Weißenhofsiedlung, Stuttgart

Andreas Hofer in der Weißenhofsiedlung, Stuttgart

In diesem Zusammenhang moniert der Schweizer auch den Diskurs über Stadtentwicklung, der oftmals auf einem jämmerlichen Niveau geführt werde – mit zu vielen vorgefassten Meinungen. Zum Beispiel, dass nahezu alle anstreben, in einem Einfamilienhaus zu leben. „Das ist doch verrückt“, meint Hofer, der selbst sehr gerne in Wohngemeinschaften und Großstädten lebt. „Der Mensch ist ein adaptives Wesen. Wenn ich in einer 60er-Jahre-Großbausiedlung aufgewachsen bin, heißt das nicht, dass ich einen Schaden fürs Leben habe. Überhaupt nicht.“ Das seien Zuschreibungen von außen, die es schwierig machen, über Städte- und Wohnungsbau zu diskutieren.

So habe man nach dem Zweiten Weltkrieg in der reicher werdenden Gesellschaft einfach „dieses Größer-ist-schöner-Prinzip“ verfolgt. Auch getrieben durch die Wirtschaft. Das Bankkonto wurde größer, das Auto ebenfalls – und das Haus dann auch. „Heute sind wir aber an einem Punkt, wo man diese Modelle aus Adiposität infrage stellen kann. Und muss. Vor allem, wenn wir uns dann noch die globale Gerechtigkeit anschauen.“ Stattdessen sollten wir uns fragen, ob so viel mehr Fläche wirklich so viel besser sei. „Abgesehen davon, dass man das unterhalten und putzen muss.“ Flächen und Dinge zu reduzieren, sich von unnötigem Ballast zu befreien, könne sehr befreiend sein. Da sei man wieder beim Ausgangspunkt vor 100 Jahren, als die Weißenhof-Architekten Ballast abwerfen und aus dem düsteren, muffigen wilhelminischen Ambiente raus wollten. „Nicht alle haben das geschafft“, meint Hofer, streicht die ergrauten Haare nach hinten und lässt seine Lachfältchen um die Augen und Mundwinkel spielen.

Auch die Funktion von Räumen und Bauten wurde damals überdacht, genau wie heute. Spannend findet Hofer einige Ideen zur Überwindung der funktionalen Zuschreibung. Wie zum Beispiel die Frage: Brauchen wir überhaupt noch Wohnungstüren? In der modernen Architektur gibt es meist die scharfe Trennung im Treppenhaus. Je Etage gehen zwei, drei Türen weg, dahinter liegt das abgeschottete Privatleben. Aber Wohn-, Lebens- und Arbeitsraum verbinden sich heute immer mehr. Was eben noch Esstisch war, ist jetzt Arbeitsplatz. „Wenn man diese Funktionsmischung ein paar Schritte weiterdenkt, könnte sich die scharfe Trennung mehr und mehr auflösen. Vielleicht sogar bis zur Abschaffung der Wohnungstür.“

In der Pubertät der Nachhaltigkeit

Ein anderer Themenpunkt ist die Nachhaltigkeit, die sich nach Hofers Auffassung im Bereich des Bauens in der Pubertät befindet. „Die erste Generation von ökologischer Architektur hat förmlich geschrien: Seht her, ich bin nachhaltig umweltfreundlich. Ich sehe zwar scheiße aus, aber so muss das sein.“ Jetzt, in der Pubertät dieser Geschichte, könne man schon sagen: Nachhaltiges Bauen kann sehr gut aussehen. Und braucht keinen alles überstrahlenden Öko-Aufkleber. Gute Architektur habe die Energie- und Stoffkreisläufe im Griff. Der aktuelle Schwerpunkt im Bereich Nachhaltigkeit konzentriert sich für den IBA-Intendanten daher auf die Frage, aus welchen Materialien wir die Häuser bauen. Wie viel Energie steckt in ihnen, wie sind sie auch nach einem Abriss wiederverwendbar?

Thomas S. Bopp, Vorsitzender des Aufsichtsrats der IBA 2027 GmbH, Andreas Hofer, Intendant der IBA’27, und Fritz Kuhn, Oberbürgermeister von Stuttgart und stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrats der IBA 2027 GmbH (v.l.n.r.)

Thomas S. Bopp, Vorsitzender des Aufsichtsrats der IBA 2027 GmbH, Andreas Hofer, Intendant der IBA’27, und Fritz Kuhn, Oberbürgermeister von Stuttgart und stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrats der IBA 2027 GmbH (v.l.n.r.)

Eng verbunden ist damit ein weiteres Themenfeld, auf das Hofer setzt. „Ich würde mit der IBA und ihren Projekten gerne zeigen, wie wir neue Technologien nutzen. Denn wenn wir die vielen innovativen industriellen Produkte, Möglichkeiten und Technologien wie BIM oder Vorfabrikationen ernst nehmen, dann entstehen vielleicht auch neue Formen.“ Da sei er schon sehr funktionalistisch eingestellt. Mit seinem Team suche er intensiv die Diskussion mit Forschungsinstituten, aber zum Beispiel auch mit Produzenten von Leichtbaustoffen und Faserverbundwerkstoffen. „Das ist auch ein Ast, auf dem man sich in die Zukunft hangeln kann.“

Unbedingte Lust als Bewerbungskriterium

Das klingt nach vielen Themen, Ideen und Terminen – und jede Menge Arbeit. Die Tage von Andreas Hofer sind seit Beginn seiner Amtszeit auf jeden Fall länger geworden. Und frühes Aufstehen, was eigentlich nicht so sein Ding ist, gehört mittlerweile zum Alltag. Aber der Mann, der gerne schwimmt und Fahrrad fährt, wirkt alles andere als müde oder gestresst. Locker und entspannt federt er weiter durch die Weißenhof-Siedlung und bleibt minutenlang vor seinem Lieblingshaus in der Anlage stehen. Das Einfamilienhaus im Hölzelweg 1, entworfen von Hans Scharoun, schätzt er vor allem für seine funktionale und organische Schlichtheit und Zeitlosigkeit. Und dann erzählt er ebenso begeistert von seinem aktuellen Posten und dem Format der IBA an sich. „Die Internationale Bauausstellung ist kein Architekturwettbewerb, bei dem man die zehn schönsten Häuser aussuchen und auszeichnen darf. Da geht es eher um Entwicklung. Und Mut.“ Und den traut sich der 57-Jährige zu. Zudem findet er Stuttgart und Umgebung als Stadt und Raum spannend, sehr lebenswert und durch die Kessellage, Täler und Ebenen geografisch sehr präsent.

Andreas Hofer vor seinem Lieblingshaus in der Weißenhof-Siedlung: Das Einfamilienhaus im Hölzelweg 1 wurde von Hans Scharoun entworfen.

Andreas Hofer vor seinem Lieblingshaus in der Weißenhof-Siedlung: Das Einfamilienhaus im Hölzelweg 1 wurde von Hans Scharoun entworfen.

Kurz nach seiner Wahl zum Intendanten bezog er zusammen mit seiner Schweizer Partnerin eine Wohnung im Stuttgarter Westen, einem der am dichtesten besiedelten Wohngebiete Deutschlands. Es ist seine erste eigene Wohnung. Zuvor lebte Hofer immer in WGs. Daher hatte er auch nicht so viel einzupacken in Zürich, wo er ebenfalls mitten in der City gewohnt hat. Und wo er auch immer noch ein Zimmer hat. Hofer sagt, er brauche eigentlich nicht viel. „Zum Arbeiten reicht mir ein Laptop“, dabei klopft er auf seinen lässig über eine Schulter gehängten Rucksack. Wichtig sei natürlich sein IBA-Team, das er recht unkonventionell zusammengestellt hat. Anstelle von Ausschreibungen nach einem Organigramm habe er einfach gefragt: „Wer hat Lust, mit uns die nächsten zehn Jahre IBA zu machen? Das war Qualifikation genug.“ Herausgekommen sei eine gute Mischung aus jüngeren und erfahreneren Leuten, von Frauen und Männern, von eher kommunikativen und offen denkenden Menschen. „Damit bin ich sehr zufrieden.“ Sein Team zollt dem Chef ebenfalls großes Lob. Er sei immer gesprächsbereit und sehr kommunikativ. Außerdem könne er das Team gut inspirieren.

Er liest Auto-Testberichte, hat aber keinen Führerschein

Hofer beschreibt sich selber als einen sehr breit interessierten Menschen. Er lese gerne wissenschaftliche Texte und begeistere sich für Technik nahezu jeder Art. Er studiere zum Beispiel gerne Testberichte von Autos. Obwohl er selber keinen Führerschein hat. Er fahre immer mit dem Fahrrad. Wobei das in Stuttgart nicht wirklich viel Spaß mache. Da sehe man die Defizite der Stadt ziemlich deutlich. Es gebe schon viele Ecken, wo die Häuser dichtmachen, nicht mehr mit der Straße spielen, sondern abstrakte Behälter seien, dazwischen nur die Kanäle des Verkehrs. „Da ist schon schlimm.“

Aber er sei hart im Nehmen. Für ihn haben auch hässliche Plätze eine Faszination. Er sei genug Historiker, um auch Dinge spannend zu finden, unter denen wir eigentlich gerade leiden. Wie zum Beispiel den Stuttgarter Charlottenplatz oder die Werkslandschaften am Neckar, wie in Untertürkheim. „Ich sage nicht, wir müssen all diese wüsten Dinge wegnehmen, durch putzige, schöne Gemeinschaftsräume ersetzen – und dann haben wir das Ziel erreicht. Das wäre sehr naiv“, betont Hofer, dessen Antworten oft zügig, aber immer bedacht kommen. Man müsse sich fragen, wie an solchen Orten die Aufenthaltsqualität für die dort lebenden Menschen im Alltag ist. Und wie diese verbessert werden kann. Auch das sei ein Prozess, bei dem es darum gehe, immer noch und immer wieder zu lernen, wie wir Stadt machen.

Letztendlich geht es Hofer bei der IBA ’27 vor allem um eines: „Wir möchten gute Architektur zeigen, die vielleicht einen kleinen Beitrag zu einem besseren städtischen Zusammenleben und zu den aktuellen gesellschaftlichen Fragen leisten kann.“ Er sei da absolut guter Hoffnung, dass der Prozess in diese Richtung laufen könne. Bislang sei es auf jeden Fall noch niemandem in den Sinn gekommen, mit irgendeiner Luxusloft-Wohnanlage als IBA-Projekt bei Hofer aufzuschlagen. „Das wird vermutlich auch nicht passieren.“ Und wenn? Dann wird der groß gewachsene Schweizer bestimmt gut zuhören, sehr grüblerisch ausschauen, langsam den Kopf schütteln und mit ausgewählten diplomatischen Worten ein deutliches „Nein“ verpacken. Auch dafür braucht man einen IBA-Intendanten wie Andreas Hofer.

Dieser Artikel erschien erstmals am 25. Juni 2019 bei competitionline.