Erwartungsgemäß hat die Vierte Kammer des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) mit ihrem Urteil im HOAI-Vertragsverletzungsverfahren die Rechtsverbindlichkeit der Mindest- und Höchstsätze der HOAI gekippt. Völlig unerwartet ist allerdings die Urteilsbegründung. Denn der EuGH folgt dabei explizit nicht der Argumentation der Europäischen Kommission und des Generalanwalts Maciej Szpunar.

Überraschende Begründung

Dieser hatte in seinem Schlussantrag die unzulässige Einschränkung der Niederlassungsfreiheit durch verbindliche Honorarsätze kritisiert, weil sie Architekten und Ingenieuren nicht die Möglichkeit gäbe, sich über niedrige Preise im Markt zu etablieren. Vor allem aber fehle der Beleg, dass ein verstärkter Preiswettbewerb zu einer Minderung der Qualität führe.

Der EuGH urteilt nun aber, dass die Bundesregierung genau das ausreichend belegt habe. Demnach sei klar geworden, „dass die Existenz von Mindestsätzen für die Planungsleistungen im Hinblick auf die Beschaffenheit des deutschen Marktes grundsätzlich dazu beitragen kann, eine hohe Qualität der Planungsleistungen zu gewährleisten“, heißt es in der Urteilsbegründung.

Sitzung einer Kammer des Europäischen Gerichtshofs. Im Fall HOAI war das Urteil erwartbar, die Begründung aber kommt aus heiterem Himmel.

Sitzung einer Kammer des Europäischen Gerichtshofs. Im Fall HOAI war das Urteil erwartbar, die Begründung aber kommt aus heiterem Himmel.

Warum fällt das Urteil dennoch gegen die Bundesregierung aus?

Weil die bestehenden Regelungen in Deutschland nicht dazu geeignet seien, ein Mindestmaß an Planungs- und Bauqualität „in kohärenter und systematischer Weise“ zu erreichen. In Deutschland dürften Planungsleistungen nicht nur von Architekten und Ingenieuren erbracht werden, die einer zwingenden berufs- oder kammerrechtlichen Aufsicht unterliegen, sondern auch von Dienstleistern, die keine entsprechende fachliche Eignung nachweisen müssen. Damit fehle es, laut EuGH, an einer Grundvoraussetzung für die qualitätsvolle Erbringung von Planungsleistungen. Gälten für die Erbringer von Leistungen, die den HOAI-Mindestsätzen unterliegen, nicht auch entsprechende Mindestanforderungen, seien die Mindestsätze nicht geeignet, eine hohe Planungsqualität zu gewährleisten, so der Umkehrschluss der Richter.

„Dürften Planungsleistungen nur von eingetragenen Ingenieuren und Architekten erbracht werden, hätte der EuGH unter Umständen anders geurteilt und zumindest die verbindlichen Mindestsätze für rechtmäßig erachtet“, kommentiert der Hauptgeschäftsführer der Bundesingenieurkammer (BingK), Martin Falenski, in einer ersten Stellungnahme. Und Dr. Thomas Welter, Bundesgeschäftsführer des Bund Deutscher Architekten, ergänzt im competitionline-Interview: „Der Gesetzgeber könnte nun auch so reagieren, dass Architekten und Beratende Ingenieure nicht nur einen Titelschutz genießen, sondern dass Planungsleistungen diesen beiden Berufsgruppen vorbehalten bleiben, das heißt, mit einem Berufsausübungsschutz reagieren.“

Die Begründung der EuGH-Richter im Wortlaut

„Aus den Feststellungen (...) des vorliegenden Urteils geht hervor, dass die Existenz von Mindestsätzen für die Planungsleistungen im Hinblick auf die Beschaffenheit des deutschen Marktes grundsätzlich dazu beitragen kann, eine hohe Qualität der Planungsleistungen zu gewährleisten, und folglich dazu, die von der Bundesrepublik Deutschland angestrebten Ziele zu erreichen.

Jedoch ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs eine nationale Regelung nur dann geeignet ist, die Erreichung des angestrebten Ziels zu gewährleisten, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, es in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen. (...)

Der Umstand jedoch, dass in Deutschland Planungsleistungen von Dienstleistern erbracht werden können, die nicht ihre entsprechende fachliche Eignung nachgewiesen haben, lässt im Hinblick auf das mit den Mindestsätzen verfolgte Ziel, eine hohe Qualität der Planungsleistungen zu erhalten, eine Inkohärenz in der deutschen Regelung erkennen. Trotz des Befunds in Rn. 88 des vorliegenden Urteils ist nämlich festzustellen, dass solche Mindestsätze nicht geeignet sein können, ein solches Ziel zu erreichen, wenn – wie aus den beim Gerichtshof eingereichten Unterlagen hervorgeht – für die Vornahme der Leistungen, die diesen Mindestsätzen unterliegen, nicht selbst Mindestgarantien gelten, die die Qualität dieser Leistungen gewährleisten können. 

Daher ist festzustellen, dass es der Bundesrepublik Deutschland nicht gelungen ist, nachzuweisen, dass die in der HOAI vorgesehenen Mindestsätze geeignet sind, die Erreichung des Ziels einer hohen Qualität der Planungsleistungen zu gewährleisten und den Verbraucherschutz sicherzustellen.“

Wie geht es weiter?

Die Bundesregierung muss die HOAI nun unverzüglich anpassen und die Pflicht zur Beachtung verbindlicher Mindest- und Höchstsätze abschaffen. Das kann bis zu einem Jahr dauern. Solange gilt allerdings das übergeordnete EU-Recht. Das heißt: Architekten und Ingenieure können für Neuverträge, die ab dem Juli 2019 geschlossen werden, keine Mindesthonorare mehr einklagen oder die Einhaltung von Höchstsätzen verlangen.

Für alle bestehenden und laufenden Verträge gilt laut Auskunft der Bundesarchitektenkammer (BAK):  Wurde ein konkret beziffertes oder bezifferbares Honorar vereinbart (zum Beispiel Festpreis oder Stundensatz), das unterhalb der HOAI-Mindestsätze liegt, lässt sich ein HOAI-konformes Honorar voraussichtlich nicht mehr einklagen. Gleiches dürfte für den Fall einer Höchstsatzüberschreitung gelten, auf die sich ein Auftraggeber beruft.

„Schließen Sie frühzeitig schriftliche Verträge ab, in denen die Vergütungshöhe eindeutig geregelt ist“, empfiehlt die BAK auf ihrer Internetseite. „Hierbei können Sie auch weiterhin Bezug auf die HOAI nehmen, wobei Sie dann ausdrücklich festlegen sollten, ob die Mittel-, Höchst- oder Mindestsätze zugrunde gelegt werden.“

Bedauern und Pragmatismus auf Kammerseite

Die Bundesregierung sowie die Kammern und Verbände der Architekten und Ingenieure bedauern in ersten Stellungnahmen das Urteil. Gleichzeitig betonen sie, dass nun das Hauptziel sei, die HOAI wie bisher als Rechtsverordnung zu erhalten. Nach intensiven Gesprächen habe die Bundesregierung dies zugesichert, meldet etwa die BAK.

Als wesentliche Elemente einer modifizierten HOAI schlagen BAK und BingK vor, dass in Auftragsverhältnissen stets die Vermutung gelte, dass die Mittelsätze der HOAI vereinbart seien, sofern nicht ausdrücklich eine andere Vereinbarung getroffen wird. Im Falle anderer Vereinbarungen, müsse die Höhe der Vergütung nach Art und Umfang der Aufgabe sowie nach Leistung des Architekten angemessen sein.

Es bleibt spannend

Mit seinem Urteil beendet der EuGH ein jahrelanges Ringen zwischen EU-Kommission und Bundesregierung. Bereits 2009 war die HOAI aufgrund europarechtlicher Bedenken gegen den Widerstand der Kammern und Verbände reformiert worden. Vor dem Hintergrund ihrer neuen Binnenmarktstrategie hatte die EU-Kommission 2015 nationalen Sonderregelungen wie staatlichen Preisrechtsregelungen und engen Reglementierungen einzelner Berufszweige den Kampf angesagt und die Bundesregierung dazu aufgefordert, die aus ihrer Sicht unionsrechtswidrigen Mindest- und Höchstsätze HOAI an EU-Recht anzupassen. Nachdem die Bundesregierung der Aufforderung nicht nachgekommen war, leitete die EU-Kommission 2017 ein Vertragsverletzungsverfahren ein, das zur Klage vor dem EuGH führte.

Mit dem heutigen Urteil ist nun klar: Die Rechtsverbindlichkeit der Mindest- und Höchstsätze muss gelockert werden. Nun bleibt die spannende Frage, auf welche Nachfolgeregelung sich die Bundesregierung mit Brüssel einerseits sowie den Kammern und Verbänden andererseits einigen wird.