Wir befinden uns im Jahre 2019 n. Chr. Ganz Europa ist von neoliberalen EU-Bürokraten besetzt ... Ganz Europa? Nein! Ein von unbeugsamen Architekten bevölkertes Land hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten und seine Baukultur zu schützen.

Mit Erfolg: Wiener Wohnungsplaner lassen sich von München inspirieren, dänische Architekten von deutschen Schulbauern. Frankreich und die Benelux-Staaten? Baukulturelles Entwicklungsland. Und skandinavische Architekten müssen Pilze sammeln, um über die Runden zu kommen ...

Brüssel ist nicht Rom

Ja, dieser Einstieg ist polemisch. Ich habe das Lamentieren satt, die Leier vom Angriff auf unsere Baukultur. Lässt man die Wortmeldungen von Branchenvertretern rund um die Abschaffung der Mindest- und Höchstsätze der HOAI Revue passieren, muss einem Angst und Bange werden um das Abendland. Aber Brüssel ist nicht Rom, die Mahnrufer in Sachen HOAI nicht Asterix und Obelix.

Die meisten Menschen reagieren sensibel, wenn es ans Selbstverständnis geht. Dass führende Branchenvertreter nun aber Brüssel-Bashing betreiben, ist unangemessen und gefährlich. Zudem bringt es niemandem etwas – außer Europagegnern.

Kürzlich schrieb Bundesarchitektenkammerpräsidentin Ettinger-Brinckmann in einem Kommentar in der Tageszeitung Die Welt, die EU-Kommission fahre „unter dem Deckmantel des freien Binnenmarktes einen systematischen Angriff auf das bewährte System der deutschen Freiberuflichkeit“. Der Präsident des Bundes deutscher Baumeister, Hans Georg Wagner, spricht in einer Pressemeldung gar von einem „Vernichtungsfeldzug der EU-Kommission gegen den deutschen Mittelstand“. Wie bitte? Sind wir im Krieg?

Es geht um die Einhaltung von Verträgen

Das, was Herrn Wagner und Frau Ettinger-Brinckmann aufstößt, ist eine Überprüfung der Konformität nationaler Regelungen mit übergeordnetem Europarecht. Dieses Europarecht hat sich nicht eine feindliche Macht ausgedacht, sondern wir, die Bürger der EU, vertreten durch die EU-Kommission, den Ministerrat der EU-Staaten sowie das Europäische Parlament. Dahinter steht der politische Wille, über eine Wirtschaftsunion die Grundlagen dafür zu schaffen, dass Europa zusammenwächst und zusammenhält. Daher der Auftrag an Brüssel, Grenzen und Barrieren abzubauen.

"Dieses Europarecht hat sich nicht eine feindliche Macht ausgedacht, sondern wir, die Bürger der EU."

Deutschland gehörte bei der Ausarbeitung der den anhängigen Vertragsverletzungsverfahren zur HOAI sowie zur Auftragswertberechnung zugrunde liegenden EU-Richtlinien zu jenen Staaten, die auf eine weitgehende Liberalisierung der Dienstleistungsmärkte gedrungen haben – eben weil Deutschland davon profitiert. Andere EU-Länder haben deswegen bereits Marktbarrieren abgebaut. Dass ausgerechnet die Bundesregierung nun versucht, Hürden in Form von berufsständischen Privilegien beizubehalten, kommt dort gar nicht gut an. Es wäre unverantwortlich, wenn Brüssel hier ein Auge zudrücken würde.

„Gestern war es die Gebührenordnung der Steuerberater und der Versandhandel von Arzneimitteln“, warnt Barbara Ettinger-Brinckmann in Die Welt, heute sei es die HOAI. Nur zur Erinnerung: Beide Reformen wurden von Verbrauchern und Krankenkassen begrüßt, denn sie brachten mehr Wettbewerb. Steuerberater und Apotheker, aber auch andere Berufsgruppen haben von Reformen hin zu einem freieren Markt gewonnen. Verbraucher profitieren davon, dass viele Medikamente einfacher und günstiger erhältlich sind, und bei der Vergütung von Steuerberatern herrscht eine weitaus größere Transparenz als früher.

"Wer behauptet, qualitätsvolles Arbeiten hänge von staatlichem Preisrecht ab, gibt deutsche Architekten und Ingenieure der Lächerlichkeit preis."

In Deutschland solle die Qualität im Vordergrund stehen, nicht das „Feilschen“, hält die BAK-Präsidentin dagegen. Müsste es um die Qualität der Architektur bei unseren Nachbarn demnach nicht ziemlich schlecht stehen? Mein Eindruck ist: Wenn man nach qualitativ hochwertigen öffentlichen Bauten schaut, von denen Verbraucher profitieren, geht der Blick gerade in traditionell liberale Märkte wie die Niederlande oder Skandinavien.

In Deutschland stürzen die Brücken nicht ein, wenn es keine Mindestsätze mehr gibt. Qualitätsvolles Arbeiten ist nicht von staatlichem Preisrecht abhängig. Wer das behauptet, entmündigt einen ganzen Berufsstand und gibt deutsche Architekten und Ingenieure der Lächerlichkeit preis. Wo bleibt da das Berufsethos?

Europa-Bashing statt Argumente

Gemeinwohl versus Deregulierung, „lange und bewährte Tradition“ versus „marktliberale Agenda nach angloamerikanischem Vorbild“, „feilschen“ – all das klingt verschwörerisch, wertesubversiv. Seien wir ehrlich: Es ist eine Rhetorik, die wir im Moment viel zu oft hören, ein Spiel mit Ängsten und Stereotypen – und das kurz vor der Europawahl. „Dann hoffen wir doch mal, dass nicht gleich alle 130.000 Architekten in Deutschland zu Europagegnern werden wie sonst nur die vom bösen Rand“, lautet ein Leserkommentar in Die Welt.

"Es ist ein gefährliches Spiel mit Ängsten und Stereotypen – und das kurz vor der Europawahl."

Doch diejenigen, die jetzt aus Enttäuschung oder Wut gegen die EU-Kommission schießen, machen es sich zu einfach. Sie sollten sich an die eigene Nase fassen: Zu keinem Zeitpunkt haben sie überzeugende Argumente für staatliches Preisrecht geliefert.

Entsprechend drastisch fällt der Schlussantrag des Generalanwalts – eine Art juristischer Gutachter und nicht zu verwechseln mit einem Staatsanwalt – im HOAI-Vertragsverletzungsverfahren aus: „Statt darzutun, dass die geltenden Bestimmungen der HOAI geeignet sind, eine hohe Qualität von Architektur- und Ingenieursdienstleistungen zu erreichen, beschränkt sie (Anm. d. Redaktion: die Bundesregierung) sich auf allgemeine Erwägungen und Vermutungen.“ So fehle der Beleg, dass ein verstärkter Preiswettbewerb zu einer Minderung der Qualität führe. „Der Wettbewerb bei Dienstleistungen, insbesondere in Bezug auf den Preis, gilt im Allgemeinen als notwendiger, gewünschter und wirksamer Mechanismus in einer Marktwirtschaft“, erinnert der Schlussantrag. Für die Wahrung von Baukultur und Qualität gebe es andere wirkungsvolle Mittel: berufsethische Normen, Haftungsregelungen, Informationspflichten, Transparenzregeln, festgelegte Richtpreise ...

Kein Garant für Baukultur und Verbraucherschutz

Seien wir ehrlich: Die HOAI ist ein hilfreiches und zweckmäßiges Instrument, das Bauherren und Architekten Orientierung bietet. Aber sie steckt voller Widersprüche. Alleine die Kopplung der Honorare an die Bausumme ist keinem Steuerzahler vermittelbar. Und haben Sie schon einmal versucht, einem Ausländer unser Honorarsystem zu erklären? Der Karlsruher Architekt Jon Steinfeld hat es: „Seine einzige Frage darauf war: ‚So a shitty architect gets as much as a good one?‘ Ich musste mit ‚Yes‘ antworten“, schreibt der Gründer des Büros Tafkal im Deutschen Architektenblatt.

Berufspolitisch ist die HOAI ein komfortables Privileg. Mit Baukultur und Verbraucherschutz hat sie nichts zu tun. Auch wenn das immer wieder behauptet wird, nachgewiesen werden konnte es nie. Nicht ohne Grund wurde ein entsprechendes von den Kammern in Auftrag gegebenes Gutachten in Stellungnahmen zwar bemüht, aber nicht veröffentlicht.

Leistung muss sich lohnen

Was passiert, wenn die Mindestsätze der HOAI als unvereinbar mit Gemeinschaftsrecht verboten werden? „Aufwachen und sich zügig zu stringenten Honorarvereinbarungen mit Auftraggebern einfinden“, schreibt der Vergaberechtler Friedrich-Karl Scholtissek – also ein formaler geschäftlicher Akt, der in anderen Kreativbranchen selbstverständlich ist: ohne vertraglich verbriefte Honorarabsprachen keine Arbeit. Ist das wirklich ein Grund, auf die Barrikaden zu gehen?

"Es ist nicht einzusehen, dass gut aufgestellte Büros vom Staat genauso gestellt werden wie 'shitty ones'."

Büros und Bauherren müssten sich von Anfang an detailliertere Gedanken machen – „Phase null“. Das mag dem einen oder anderen Architekten, der sich lieber durchwurstelt, nicht schmecken. Für das Gemeinwohl aber ist es von Vorteil, verhindert es doch nachträgliche Streitigkeiten, Verzögerungen, Prozesse etc. Darf das wirklich ein Anlass sein, unbesonnen gegen Europa zu wettern?

Es ist nicht einzusehen, dass die Glieder eines ganzen Berufsstandes pauschal über einen Kamm geschert werden; dass gut aufgestellte Büros, Architekten, die strategisch vorgehen, die hohe Qualität im zeitlich vereinbarten Rahmen liefern und für ein optimales Kosten-Nutzen-Verhältnis im Sinne des Bauherren einstehen, vom Staat genauso gestellt werden wie „shitty ones“. Ja, Leistung muss sich lohnen!

Marktvorteil für kleine Büros

Übrigens: Die Europäische Kommission ist der Auffassung, dass es auch dem inländischen Nachwuchs zustehen sollte, sich durch Preisnachlässe gegenüber der Konkurrenz behaupten zu dürfen. Recht hat sie.

In fast allen nicht regulierten Kreativbranchen sind die Angebote der No-Names niedriger als die der großen Denkfabriken. Das hat nichts mit Selbstausbeutung zu tun, sondern mit Betriebswirtschaft: Mit ein, zwei, drei, vier, fünf Leuten muss ich keinen organisatorischen Wasserkopf mitfinanzieren. Natürlich kann ein kleineres Büro günstiger anbieten. Warum verwehrt man ihnen diese Möglichkeit?

"Was wir benötigen, ist ein Mentalitätswandel: Wir brauchen Mut zur Veränderung."

Planer sind Gründer, sind Unternehmer. Sie sollten frei und ohne Zwänge agieren können. Warum sollten sie zu ihrem Glück gezwungen werden? Als seien sie nicht in der Lage, für ihre Leistungen einen Preis zu setzen. Als gäbe es nicht genügend Normen und Vorschriften in Planung und Bau.

Realpolitik, jetzt!

Deutschland habe sich zu lange auf seinem Wohlstand ausgeruht, sei behäbig geworden und habe nötige Reformen verschlafen, schreibt Der Spiegel in seiner aktuellen Titelgeschichte. Das gilt auch für die Planungsbranche.

Realpolitik bedeutet, sein Reden und Handeln nicht auf Sorgen und Schreckensszenarien aufzubauen, sondern auf Fakten, Entwicklungen und Opportunitäten. Realpolitik bedeutet, die Architekten und Ingenieure in Deutschland auf einen freien, europaweiten Dienstleistungsmarkt vorzubereiten – „Ihr seid gut! Wir meistern die Umstellung gemeinsam! Wir handeln für euch einen super Richtpreiskatalog aus und formulieren Anreize zu dessen Anwendung“.

Anstatt an der Legitimation der EU zu rütteln und den Populisten Wind in die Segel zu blasen, sollten Branchenvertreter und Politiker lieber erklären, warum und wie Architekten und Ingenieure von dem Abbau der Marktbarrieren profitieren können. Was wir benötigen, ist ein Mentalitätswandel: Wir brauchen Mut zur Veränderung.
Es gibt keinen besseren Zeitpunkt.
Die Auftragsbücher sind voll.
Packen wir es an.

Wie ist Ihre Meinung? Blicken Sie mit Sorge oder mit Zuversicht in Sachen HOAI in die Zukunft?

Schreiben Sie uns!

Wir veröffentlichen Ihre Leserbriefe gerne und gegebenenfalls in gekürzter Form an dieser Stelle.