Auf den ersten Blick verschleiern die nackten Zahlen das Problem: Laut des Statistischen Bundesamts haben im vergangenen Jahr in der Architektur mehr Frauen gearbeitet als Männer. 56 Prozent der Studierenden im Fach Architektur waren zuletzt weiblich, und bei den 50 besten Büros unseres diesjährigen Rankings sind laut einer Umfrage von competitionline über die Hälfte der Führungskräfte auf der mittleren Leitungsebene Teamleiterinnen. Viele andere Branchen weisen im Vergleich wesentlich schlechtere Werte auf.

Doch schon der zweite Blick verdeutlicht: Das Problem mangelnder Gleichberechtigung ist auch eines der Architekturbranche. Denn auf der obersten Führungsebene der Ranking-Besten in unserer Umfrage, sinkt der Frauenanteil auf gut 17 Prozent.

 

Am heutigen Frauen-Gleichstellungstag (26. August) stellt sich die Frage, wo die Branche in puncto Gleichberechtigung steht und welche Auswirkungen der Corona-„Lockdown“ auf die Rolle von Architekt*innen hat?

„Will ich überhaupt in vorderster Front stehen?“

2016 wollte Hillary Clinton die erste Frau im Amt des US-Präsidenten sein. Auf ihrer Wahlparty war geplant, dass eine gläserne Decke zerspringt – als Symbol dafür, dass sie es nach ganz oben geschafft hat. Doch die Glasplatte blieb ganz, Clinton verlor die Wahl.

Es ist der Sprung nach ganz oben, an dem offenbar auch viele Architektinnen scheitern oder den sie ganz bewusst nicht in Angriff nehmen. Ein Problem, das in unserer Gesellschaft weit verbreitet ist – noch immer.

Auch Corinna Toell kennt die gläserne Decke. Sie arbeitet seit zehn Jahren als projektleitende Architektin beim Büro Franz&Sue – entstanden aus den beiden Büros Franz Architekten und Sue Architekten. Ganz oben spielt die Mutter eines kleinen Kindes nicht mit. Es hätte sich bei der Fusion so ergeben, dass nur Männer – nämlich die jeweiligen Partner der beiden Büros – in der ersten Reihe stehen. Aber das sei auch nicht weiter schlimm, sagt sie. „Gleichberechtigung, Eigenverantwortung und Mitsprache der Mitarbeiter*innen werden bei uns großgeschrieben.“

Für Europas größtes Architektur- und Ingenieursunternehmen heißt Gleichberechtigung vor allem Vielfalt: Über 60 Prozent der Führungskräfte von Sweco (Jahresumsatz 2019: 1,9 Milliarden Euro) sind weiblich. Und das aus gutem Grund, wie CEO Åsa Bergman jüngst im Interview mit unserer Redaktion verriet: „Man ist immer erfolgreicher, wenn sich unterschiedliche Skillsets rund um den Arbeitstisch sammeln, um eine Lösung oder eine Idee zu entwickeln. Wenn man unterschiedliche Kompetenzen und unterschiedliche Blickwinkel auf die Situation hat, die es ermöglichen, die Sache aus der 360-Grad-Perspektive zu betrachten, fallen einfach die besseren Entscheidungen.“

Zurück nach Wien. Toell sieht mehrere Gründe, warum es die gläserne Decke immer noch gibt. „Zum einen ist da natürlich die Typ-Frage: Will ich überhaupt Mitarbeiter*innen führen und in vorderster Front stehen?“ Zum anderen sei es gerade in der Architektur auch immer eine inhaltliche Frage, so Toell. „Bin ich in der Lage, komplett den Überblick über alle Projekte und deren einzelne Phasen zu behalten?“ Frauen seien zurückhaltender in ihrer Selbsteinschätzung – „wir kommunizieren eine vorsichtigere Einschätzung unserer Qualitäten und Fähigkeiten nach außen als die Männer. Wir hauen oft nicht so auf den Putz und bluffen nicht.“

Corinna Toell von Franz&Sue: Gleichberechtigung wird groß geschrieben.

Corinna Toell von Franz&Sue: Gleichberechtigung wird groß geschrieben.

Und dann ist da noch das Thema Familie. Noch immer tragen Frauen die Hauptlast – Väter gehen seltener in Elternzeit. Die Elternzeitquote von Frauen betrug 2018 24,5 Prozent, die von Männern 1,6 Prozent. Das führt gerade in der Architektur zum Spagat, erläutert Toell. „Das ist kein klassischer Nine-to-Five-Job, es gibt stressigere Phasen und entspanntere. Das kann man schwer mit den Familienzeiten überein bringen. Beispiel Kinder: Da ist um 16 Uhr die Schule aus. Und wenn man dann nicht vor der Schule steht, hat man ein Problem.“

Ihr Sohn sei jetzt schon etwas größer, „da ist es einfacher zu regeln“, aber auch sie kenne die Tage, „an denen man das Kind an der Schule absetzt, ins Büro hetzt, kurz vor Feierabend noch ein Meeting hat, dann zur Schule rennt und trotzdem fünf Minuten zu spät kommt“. „Eigentlich hat man da im Büro permanent ein schlechtes Gewissen, weil man pünktlich weg muss – und dem Kind gegenüber, weil man zu spät kommt.“

Corona als Booster für Retraditionalisierung

Einen Zwiespalt, den auch Doris Grabner als Mutter von drei Kindern kennt. Sie leitet mit zwei Partnern das bayerische Büro für Landschaftsarchitektur und Stadtplanung grabner huber lipp. „Ich schätze mich als Organisationstalent ein.“ Wobei bei ihr auch das Timing gut gepasst habe. „Ich habe mein erstes Kind kurz vor dem Abitur bekommen – sprich, während meines Studiums habe ich schon gelernt, Profession und Familie parallel zu organisieren. Das erscheint mir im Nachgang einfacher als in der Zeit als Angestellte und freie Mitarbeiterin nach dem Diplomabschluss.“

Umso besser kann sie nachvollziehen, wie sehr die Corona-Pandemie junge Eltern belastet. „Meine Jüngsten sind sieben und elf, Homeschooling und fehlende Nachmittagsbetreuung kombiniert mit Homeoffice sind eine Herausforderung, zumal die Tageseinteilung davor darauf basierte, dass die Kinder frühestens um vier Uhr nachmittags nach Hause kommen, noch satt und mit erledigten Hausaufgaben. Der Teil des Teams, der ebenfalls Kinder zu betreuen hat, tauscht sich darüber viel aus. Einige Mütter und auch Väter arbeiten nicht voll im Büro, weil die Kinderbetreuung noch nicht zu 100 Prozent wieder wie gewohnt gesichert ist. Die Arbeit verlagert sich leider teilweise in unübliche Zeitregionen, die davor der Erholung, Freizeit und Erledigung von Alltäglichem dienten. Das zehrt zusätzlich aus.“

Doris Grabner von grabner huber lipp: Arbeit verlagert sich in unübliche Zeitregionen.

Doris Grabner von grabner huber lipp: Arbeit verlagert sich in unübliche Zeitregionen.

Trotzdem gibt es Unterschiede: „Die Gleichstellung zu Hause ist häufig nicht so erlebbar wie im Büro, das merkt man im Homeoffice auch am Verhalten der Kinder. Ich mache die Erfahrung und höre auch von weiteren Müttern, dass im Homeoffice alle zwei Minuten der Nachwuchs sich meldet, während der Vater zu Hause – egal ob gerade beschäftigt oder nicht – in Ruhe gelassen wird.“

Diese Beobachtung stützt das jährliche sozio-ökonomische Panel des DIW (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung). So investierten sowohl Männer als auch Frauen in den Monaten April und Mai dieses Jahres deutlich mehr Zeit in die Kinderbetreuung. Allerdings ist bei den Müttern die Zeit deutlich mehr angewachsen als bei den Vätern. Die Forscher konstatieren daher: „Die Hauptlast der Kinderbetreuung während des Lockdowns lag bei den Müttern.“

 

Dies sei „gefühlt eine unfaire Verteilung“, aber gleichzeitig zeige es auch, „was viele Frauen noch mal eben so nebenbei erledigen – dass sie nämlich erste Ansprechpartnerin der Kinder sind“, so Grabner. Das sei natürlich ein schönes Gefühl. „Aber manchmal brauche ich meine Ruhe und sollte ungestört arbeiten können.“ Ein frommer Wunsch. „Die Kinder gewöhnen sich nicht daran, dass es zu Hause für mich eine ‚Familien-Auszeit‘ geben soll.“

An dem Punkt sieht auch die Soziologin Jutta Allmendinger ein großes Problem. Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) sprach in der ARD von einer „entsetzlichen Retraditionalisierung“, die durch Corona angestoßen werde. „Das wirft die Frauen um drei Jahrzehnte zurück“, so die 63-jährige Soziologin. „Mit dem Recht auf Heimarbeit braucht es auch ein Recht auf einen Platz außerhalb der Familie.“

Im Wohnzimmer-Büro angefangen

Die Familie sieht Grabner aber nicht pauschal als Hemmnis für Frauen in der Arbeitswelt. Dass sie sich selbstständig gemacht hat, sieht die Landschaftsarchitektin auch in ihrer Rolle als alleinerziehende Mutter begründet. „Ich fand es aus rein pragmatischer Sicht einfacher, mit Kind selbstständig zu arbeiten, mir meine Zeiten und Projekte selber auszusuchen und keine Zeit beim Pendeln zu verlieren. Das überschaubare wirtschaftliche Risiko war ich bereit dafür einzugehen.“

Zuerst habe sie aus dem Wohnzimmer heraus gearbeitet. „Da hatte ich die nötige Flexibilität. Dann, nach anfänglichem freiem Netzwerken, kamen mein erster Partner und schlussendlich auch Angestellte hinzu.“ Es brauche neben viel vorausschauender Organisation und einem stabilen Umfeld, das einem Freiräume schafft, „auch immer eine gewisse Portion Zielstrebigkeit, Selbstbewusstsein und Durchhaltevermögen – und Glück.“

Beruf und Privatleben nicht zu sehr trennen

Für Bianca Nitsch bedeutete eine gewisse Portion Glück, dass sie als Frau nach dem Mutterschutz wieder schnell im Büro einsteigen konnte, „zunächst natürlich nicht in Vollzeit, das ging erst nach etwa anderthalb Jahren. Aber gefehlt habe ich nur drei Monate um die Geburt herum“, erzählt die Geschäftsführerin von SBA. „Architekt*innen brauchen einfach viel Berufserfahrung – ohne die geht im Job nix.“

Heute leitet Nitsch bei SBA auch das Münchner Büro – einer von drei Standorten des Unternehmens. Sie weiß: „Ohne Flexibilität geht das nicht. Heißt auch, dass wir als Arbeitgeber es den Mitarbeiterinnen erlauben müssen, sehr früh morgens oder spät abends zu arbeiten und dafür tagsüber Kinder-Zeit einzulegen, oder dass die Kleinen auch mal mit ins Büro dürfen, wenn es einfach nicht anders geht.“

Gerade in der Corona-Hochzeit, als die Betreuungsmöglichkeiten sehr eingeschränkt waren, weil Kitas und Schulen geschlossen waren und die klassische Anlaufstelle Oma und Opa keine Option war, habe sich das ausgezahlt. „So konnten wir uns davor retten, auf sehr viele Mitarbeiter*innen zu verzichten. Natürlich lenken Kinder bei der Arbeit manchmal ab, weil sie zum Beispiel die Videokonferenz stören, aber dafür hatten alle in dieser sehr speziellen Zeit auch Verständnis. Ohne geht es nicht.“

Bianca Nitsch von SBA: Mit viel Verständnis durch die Corona-Hochzeit.

Bianca Nitsch von SBA: Mit viel Verständnis durch die Corona-Hochzeit.

Verständnis der Kolleg*innen ist das, was sie auch fernab von Corona als zentralen Punkt in der Entwicklung der Frauenrolle sieht. „Ich beobachte oft bei uns an der Schule, dass morgens die Männer die Kinder bringen und die Mütter dann nachmittags mit Abholen dran sind. Aber gerade dieser Moment am Nachmittag ist der allerschwierigste Moment – gerade wenn man wie wir Projektarbeit macht. Man sitzt dann in Besprechungen, die man nicht verlassen möchte, aber eigentlich muss.“ In dieses Spannungsfeld aus Arbeit und Familie – „Ich gehe zu früh und komme trotzdem zu spät an“ – dürften Frauen nicht geraten.

Nitsch denkt die Arbeit generell nicht losgelöst vom Privatleben. „Jede Frau, die sich in unserem Beruf selbstständig machen will, muss ganz klar für sich beantworten: Welche Struktur brauche ich persönlich, damit ich flexibel und effizient arbeiten kann?“ Da müsse man weit über die klassischen Muster hinausdenken und sich einen eigenen Raum organisieren, in dem man alles gut vereinbaren kann. „Bei mir persönlich ging das so weit, dass ich es sogar geschafft habe, mit unserem Büro in die Nähe der Schule meines Sohnes zu ziehen. Das ist für mich ein Riesenmehrwert.“

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Der Artikel erschien erstmals am 26. August 2020 auf competitionline.com.