Über die Hälfte des jährlich produzierten Mülls in Deutschland entsteht laut dem Statistischen Bundesamt durch Bau- und Abbruchabfälle. „Urban Mining“ versteht die Stadt als Baustofflager, in dem Rohstoffe gespeichert, verwendet und wieder entnommen werden können. Baustoffe sollen dabei in möglichst geschlossenen Kreisläufen geführt und wiederverwendet werden. Bislang wurde die Rückbau- und Recyclingfähigkeit von Konstruktionen im Bauwesen ausschließlich qualitativ nach den Anforderungen einer recyclingfreundlichen Baustoffauswahl und rückbaufreundlichen Baukonstruktion bewertet.

Mit dem Urban Mining Index (UMI) hat die Architektin Prof. Dr. Anja Rosen an der Bergischen Universität Wuppertal eine Systematik entwickelt, mit der auch quantitativ gemessen werden kann, welche und wie viele der Wert- und Abfallstoffe in Gebäuden nachgenutzt werden können und in welcher Qualität dies geschieht. Der Index soll Planer*innen künftig schon im Planungsprozess ermöglichen, ihre Projekte in Hinblick auf die Zirkularität der verwendeten Materialien zu optimieren. Mit ihrem Projekt hat Rosen im Juli die DGNB Sustainability Challenge 2021 in der Kategorie “Forschung” gewonnen.

Im Interview mit competitionline erzählt die 51-jährige Architektin und Geschäftsführerin der energum GmbH, wie ihr Konzept funktioniert, warum es künftig ein Pfand auf Häuser geben sollte und warum wir nachfolgenden Generationen Zirkularität im Bauwesen schuldig sind.

Sie haben gerade nur wenig Zeit? Hier lesen Sie das Wichtigste über den Urban Mining Index in Kürze.

DGNB Sustainability Challenge

Die DGNB Sustainability Challenge zeichnet jedes Jahr Vorreiterprojekte aus, die hinsichtlich Klimaschutz und Kreislaufwirtschaft zukunftsweisend sind und einen Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit in der gebauten Umwelt leisten. Nach einem Auswahlverfahren durch die DGNB-Jury präsentieren die drei besten Teilnehmer*innen in den Kategorien “Innovation”, “Start-up” und “Forschung” ihre Projekte. Anschließend werden die Gewinner*innen über ein Online-Voting ermittelt. Die Sieger*innen der DGNB Sustainability Challenge 2021 wurden im Rahmen des DGNB Tags der Nachhaltigkeit am 1. Juli 2021 in Stuttgart bekannt gegeben. „Alle ausgewählten Projekte sind überzeugende Beispiele, die zeigen, was möglich ist, wenn Mut und Gestaltungswille zusammenkommen“, sagt Dr. Christine Lemaitre, Geschäftsführende Vorständin der DGNB. “Sie zeigen anderen, dass es sich lohnt, ambitioniert zu sein, und dass Innovation und Nachhaltigkeit sich positiv verstärken können.“ 

Amandus Samsøe Sattler (DGNB Präsident, links) mit den Gewinnern der DGNB Sustainability Challenge 2021 (v.r.n.l.): Nils Rödenbeck (Interface Deutschland), Prof. Dr.-Ing. Anja Rosen (Bergische Universität Wuppertal), Dominik Campanella, Marc Haines (beide Concular).

Amandus Samsøe Sattler (DGNB Präsident, links) mit den Gewinnern der DGNB Sustainability Challenge 2021 (v.r.n.l.): Nils Rödenbeck (Interface Deutschland), Prof. Dr.-Ing. Anja Rosen (Bergische Universität Wuppertal), Dominik Campanella, Marc Haines (beide Concular).

Frau Dr. Rosen, seit mehr als einem Jahrzehnt versuchen die Deutschen ihren Bestand zu dämmen, mit sehr mäßigem Erfolg. Warum sollen sie jetzt auch noch recyclen? 

Momentan stehlen wir den jungen Menschen und den nachfolgenden Generationen ihre Rohstoffe, weil wir der Erde mehr entnehmen, als sie “nachproduzieren” kann. Das zeigt der jährliche Earth Overshoot Day (siehe Infokasten). Vom 1. Januar bis zum 29. Juli hat die Menschheit so viele Ressourcen verbraucht, wie der Planet in diesem gesamten Jahr regenerieren kann. Im Moment verbrauchen wir daher etwa 1,7 bis 1,8 Erden pro Jahr. 

Das bedeutet, dass die Erde bald ausgeraubt ist und die Flächen, die zum Rohstoffabbau zur Verfügung stehen, weniger werden. Sie stehen in Konkurrenz zu Siedlungsflächen, zum Nahrungsmittelanbau oder zum Naturraum, der geschont werden muss, um die Biodiversität zu erhalten. Da kann es nur richtig sein, dass wir das Material, was wir der Erde bereits entnommen haben, im Kreislauf halten, um damit zu wirtschaften. Das wäre der einfachste Weg.

Earth Overshoot Day

Der Earth Overshoot Day markiert das Datum, an dem die Nachfrage der Menschheit nach ökologischen Ressourcen in einem bestimmten Jahr das Maß übersteigt, welches die Erde in diesem Jahr regenerieren kann.

Um das Datum des Earth Overshoot Day zu bestimmen, berechnet das Global Footprint Network die Anzahl der Tage eines Jahres, an denen die Biokapazität der Erde ausreicht, um den ökologischen Fußabdruck der Menschheit bereitzustellen. Der Rest des Jahres entspricht dem globalen Overshoot.

Warum ist dafür ein Urban Mining Index notwendig?

Um die Strategie des Urban-Mining-gerechten Bauens anwenden zu können, benötigen Architekt*innen und Ingenieur*innen neue Planungsinstrumente und Bewertungsmaßstäbe. Wir haben Gebäude bisher vornehmlich hinsichtlich ihrer Energieeffizienz optimiert und dabei oft die Baumaterialien außer Acht gelassen. Es gibt zwar Instrumente, mit denen man die Umweltwirkungen von Baustoffen messen kann – beispielsweise die Ökobilanzierung, die Auskunft darüber geben kann, wie viel Treibhausgase durch Beton oder Stahl verursacht werden –, aber sie können das Recyclingpotenzial nur eingeschränkt abbilden.

Benutzeroberfläche im neuen UMI-Tool, weiterentwickelt im Rahmen des Solar Decathlon 21/22 mit Förderung durch das BMWi.

Benutzeroberfläche im neuen UMI-Tool, weiterentwickelt im Rahmen des Solar Decathlon 21/22 mit Förderung durch das BMWi.

Wie funktioniert der Urban Mining Index?

Mit dem Urban Mining Index, den ich im Rahmen meiner Promotion entwickelt habe, kann man Zirkularitätsraten über den gesamten Lebenszyklus eines Bauwerks unter Berücksichtigung der Konstruktion berechnen und bewerten. Es gibt zwei übergeordnete Kriterien, wenn man über Rückbau- und Recyclingfähigkeit im Bauwesen spricht: Das eine ist die Recyclingfähigkeit der Materialien, und das andere ist die Fügung. Wir fügen Materialien fest zusammen, sodass sie oft nicht mehr lösbar sind. Darunter hat in den letzten Jahrzehnten die Recyclingfähigkeit gelitten, weil die Baustoffindustrie aufgrund erhöhter Anforderungen an Wärme-, Schall- und Brandschutz zum Beispiel Kompositbaustoffe entwickelt hat, die später beim Rückbau nicht sortenrein getrennt werden können. Mit den Zirkularitätsraten, die im Urban Mining Index berechnet werden, misst man den Aufwand, der mit dem Rückbau und der Trennung von Materialien verbunden ist. Das wird anschließend mit der Recyclingfähigkeit des Materials verrechnet.

Systematik im Urban Mining Index

Systematik im Urban Mining Index

Glossar

Kreislaufwirtschaft

Die Kreislaufwirtschaft (Circular Economy) ist ein Ansatz, bei dem bestehende Materialien und Produkte so lange wie möglich geteilt, geleast, wiederverwendet, repariert, aufgearbeitet und recycelt werden. Auf diese Weise werden der Lebenszyklus der Produkte verlängert und Abfälle auf ein Minimum reduziert. Nachdem ein Produkt das Ende seiner Lebensdauer erreicht hat, verbleiben die darin gebundenen stofflichen Ressourcen so weit wie möglich in der Wirtschaft. Sie werden in möglichst endlosen Kreisläufen genutzt, um weiterhin Wertschöpfung zu generieren. Die Kreislaufwirtschaft steht im Gegensatz zum traditionellen, linearen Wirtschaftsmodell (Abbauen – Produzieren – Entsorgen).

Zirkularitätsrate

Die Zirkularitätsrate beschreibt das Verhältnis der zirkularen Verwendung von Materialien zu der gesamten Materialverwendung. Eine höhere Zirkularitätsrate zeigt an, dass mehr Sekundärmaterialien primäre Rohmaterialien ersetzen, das heißt, die Umweltauswirkungen des Abbaus von Primärmaterial vermeiden.

Können Sie das an einem Beispiel erläutern?

Mit dem Urban Mining Index prüfen Architekt*innen, welchen Aufwand es bedeutet, die Konstruktion zurückzubauen. Dafür gibt es einen Faktor. Wenn etwas sehr leicht zu trennen ist – wie es bei einer losen Schüttung der Fall ist –, dann ist der Faktor eins, weil das Rückbauunternehmen das Material dem Bauwerk leicht entnehmen könnte und es dem Recycling zugeführt werden kann. 

Ist eine Konstruktion dagegen sehr schwer zurückzubauen, weil die Materialien fest miteinander verklebt sind, hätte das Rückbauunternehmen damit einen großen Aufwand und das Material wird in der Regel nicht recycelt. So eine Konstruktion erhält zum Beispiel einen Faktor von 0,6, der die Wahrscheinlichkeit des hochwertigen Recyclings mindert. Damit wird die Wirtschaftlichkeit des selektiven Rückbaus berücksichtigt. 

Wie lässt sich die Wirtschaftlichkeit beurteilen?

Die Wirtschaftlichkeit ist bestimmt vom Arbeitsaufwand, den man hat, um Bauteile zurückzubauen und Materialien zu trennen. Gleichzeitig spielt der Wert der Materialien eine Rolle. Wenn ein sehr wertvolles Material verbaut ist, wird es das Rückbauunternehmen sortenrein entnehmen, weil es das Material verkaufen kann. 

Baustoffe, die im reinen Zustand niedrigere Entsorgungskosten verursachen, werden ebenfalls häufig sortenrein entnommen. Die Entsorgungsgebühr für sortenreinen Beton ist zum Beispiel viel niedriger als die Gebühr für Beton, der mit Bitumen verschmutzt ist oder als Bauschutt mit Ziegeln angeliefert wird. Deshalb fließt der Wert des Abbruchbaustoffes mit ein und spielt im Urban Mining Index eine Rolle. Im Grunde werden die Faktoren für die Wirtschaftlichkeit des Rückbaus mit der Recyclingrate multipliziert.

Glossar

Recycling

Mit Recycling wird die stoffliche Verwertung von Abfällen bezeichnet. „Recycling ist jedes Verwertungsverfahren, durch das Abfälle zu Erzeugnissen, Materialien oder Stoffen entweder für den ursprünglichen Zweck oder für andere Zwecke aufbereitet werden; es schließt die Aufbereitung organischer Materialien ein, nicht aber die energetische Verwertung und die Aufbereitung zu Materialien, die für die Verwendung als Brennstoff oder zur Verfüllung bestimmt sind“ (§ 3 Abs. 25 KrWG).

Recyclingfähigkeit 

Die Recyclingfähigkeit lässt sich für alle physischen Produkte feststellen und ist eine individuelle Eigenschaft. Die Bewertung der Recyclingfähigkeit wird von zwei Parametern bestimmt: der Beschaffenheit der Erzeugnisse und den Verwertungswegen nach Gebrauch. Sie beschreibt die Eignung eines Produkts, einer Wiederverwertung zugeführt zu werden, um Stoffkreisläufe zu schließen.

Recyclingrate

Die Recyclingrate oder auch Recyclingquote bezeichnet den Anteil der aus dem Abfall recycelten Werkstoffe. Dabei unterscheidet man die recycelbaren Wertstoffe nach ihrer Beschaffenheit in Sekundärbauteile (zum Beispiel komplette, wiederverwertbare Bauteile wie Dachpfannen, Türen oder Treppen) und Sekundärrohstoffe (zum Beispiel stofflich wiederverwertbares Material wie Metalle, gebrochenes Glas oder Dämmstoffe).

Bei welchen Projekten kann der Urban Mining Index angewendet werden? 

Der Urban Mining Index kann in der Neubauplanung, aber auch in der Sanierungsplanung eingesetzt werden. Architekt*innen können das Tool in der Planung nutzen, um den Anteil recycelter Materialien zu maximieren. Darin gibt es zwei Kreisläufe, sogenannte Loops: Das eine ist die Pre-Use-Phase vor der Nutzung des Gebäudes. Was bringe ich an recycelten Materialien oder an erneuerbaren Rohstoffen ins Bauwerk ein? Dann gibt es die Post-Use-Phase bei einem Austausch oder einem finalen Rückbau, wenn Materialien entnommen und deren Kreislaufpotenzial Post-Use berechnet wird. Nehmen sie einen Weg der Wiederverwendung und des hochwertigen Recyclings? Das sind die Königsdisziplinen, weil man damit geschlossene Kreisläufe erzeugt. 

Was meinen Sie mit geschlossenen Kreisläufen?

In geschlossenen Kreisläufen können Materialien ohne Qualitätsverlust gehalten werden, denn Recycling ist nicht gleich Recycling. Manche sprechen schon von Recycling, wenn Materialien einfach verbrannt und die dadurch umgewandelte Energie weiter genutzt wird. Das sehen wir aber anders. Auch ein Downcycling ist etwas anderes als Recycling oder gar Upcycling. Deswegen werden diese Qualitätsstufen über den gesamten Lebenszyklus berücksichtigt und mit dem UMI schon während der Planung eines Neubaus oder einer Sanierungsmaßnahme angewandt.

Qualitätsstufen der Nachnutzung in der Pre- und Post-Use-Phase

Qualitätsstufen der Nachnutzung in der Pre- und Post-Use-Phase

Glossar

Upcycling

Upcycling beschreibt den Aufbereitungsprozess von gebrauchten Produkten oder Abfällen, der mit einer Qualitätssteigerung gegenüber dem Ausgangsprodukt verbunden ist.

Downcycling

Downcycling beschreibt den Aufbereitungsprozess von gebrauchten Produkten oder Abfällen, der mit einem Qualitätsverlust gegenüber dem Ausgangsprodukt verbunden ist.

Warum sollten sich Architekt*innen mit dem zirkulären Bauen auseinandersetzen?

Inzwischen geht es nicht mehr nur um die persönliche Motivation von Idealist*innen. Natürlich gibt es Planungsbüros, die als Architekt*innen ein gewisses Verantwortungsbewusstsein haben und von sich aus das Thema voranbringen wollen. Tatsächlich kriegen wir aber vermehrt Anfragen von Bauherr*innen, die die Circular Economy als wichtiges Zukunftsthema für das Bauwesen erkannt haben. Sie fragen an, ob wir deren Planungen oder die Planung ihrer Architekt*innen mit dem Urban Mining Index begleiten können.

Welche Gründe haben diese Bauherr*innen?

Öffentliche Bauherr*innen haben eine Vorbildfunktion. Da das Thema eng mit dem Green Deal und dem Circular Economy Action Plan der EU (siehe Infokasten) verknüpft ist, wird es nun auch vonseiten der Politik verfolgt. Kommunale Auftraggeber und die Bauverwaltungen der Länder sind hier besonders in der Pflicht, die Ziele der Politik umzusetzen. Private Bauherr*innen handeln dagegen meist aus wirtschaftlichen Interessen. Investor*innen und große Unternehmen wissen um die Bedeutung der Nachhaltigkeit für ihre Reputation und greifen das Thema in ihrer Berichterstattung auf. Es ist deshalb zu erwarten, dass das ressourcenschonende, nachhaltige Bauen im Zuge der EU-Taxonomie noch weiter an Bedeutung gewinnt. Bei Privatpersonen, also dem Häuslebauer, ist das Thema hingegen noch nicht angekommen. In jedem Fall ist festzuhalten: Zirkuläres Bauen ist – über den gesamten Lebenszyklus betrachtet – wirtschaftlich. Das haben Berechnungen für den Atlas Recycling nachgewiesen.

Circular Economy Action Plan

Die Europäische Kommission hat im März 2020 den neuen Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft (Circular Economy Action Plan) verabschiedet. Er ist einer der Hauptbausteine ??des European Green Deal, Europas neuer Agenda für nachhaltiges Wachstum. Der Übergang der EU zu einer Kreislaufwirtschaft soll den Druck auf die natürlichen Ressourcen verringern und nachhaltiges Wachstum sowie Arbeitsplätze schaffen. Er ist eine Voraussetzung, um das EU-Klimaneutralitätsziel 2050 zu erreichen und den Verlust der Biodiversität zu stoppen.

Mit dem neuen Aktionsplan werden Initiativen entlang des gesamten Lebenszyklus von Produkten angekündigt. Ziel ist es, den gesamten Wirtschaftskreislauf abzudecken – von der Produktion über den Verbrauch, Reparatur und Wiederaufbereitung bis hin zur Abfallwirtschaft und Sekundärrohstoffen.

Sie arbeiten mit dem Urban Mining Index darauf hin, dass möglichst viel in zirkulären Prozessen gebaut wird. Müsste es dazu nicht auch von politischer Seite Unterstützung etwa in Form von Regularien geben?

Das sollte auf alle Fälle von politischer Seite regulatorisch, aber auch wirtschaftlich unterstützt werden. Die Baubranche selbst ist ziemlich träge, und die Politik kann auch träge sein, wenn von der Wirtschaft kein Druck gemacht wird. Nach einem Antrag der Grünen zu einer Bauwende im Bundestag, Anstößen der FDP sowie von Architects for Future, ressourcenschonendes und klimagerechtes Bauen voranzutreiben, beschäftigt sich jetzt der Bauausschuss des Bundes damit und diskutiert, wie man zirkuläres Bauen auf nationaler politischer Ebene verankern kann.

Da gibt es diverse Möglichkeiten, angefangen bei einer Primärbaustoffsteuer, die erlassen werden könnte, um einen Nachteil der Verwendung recycelter Materialien gegenüber Primärmaterialien auszugleichen.

Was meinen Sie mit “Nachteil”?

Momentan ist das Bauen mit Primärmaterialien häufig billiger als mit Recyclingmaterialien. Der Recyclingaufwand und auch der selektive Rückbau kann teurer sein, als wenn die alten Materialien entsorgt und der Erde neuer Kies und neuer Sand entnommen werden. Die Steuer müsste den Wert des Materials auch für die nachfolgenden Generationen abbilden. 

Damit soll das Bauen nicht verteuert werden, aber ein Impuls zum Umdenken gegeben werden. Das hat mittlerweile auch die Politik erkannt.

Die Grünen und anerkannte Expert*innen wie die Bauingenieurin Lamia Messari-Becker wünschen sich einen Ressourcenausweis für Gebäude, der unter anderem erfassen soll, welche Elemente bei einem etwaigen Rückbau zur Wiederverwertung zur Verfügung stehen würden. Was halten Sie davon?

Im Moment haben wir nur den Energieausweis für Gebäude. Bei einem Bauantrag muss man also den Energiebedarf berechnen, den dieses Bauwerk hat. Das könnte erweitert werden zu einem Ressourcenpass, sodass nicht nur die Energie, sondern auch die gesamte Rohstoffentnahme dargestellt und bewertet wird. In Materialpässen könnte man festhalten, welche Rohstoffe im Bauwerk verbaut sind. Die Ressourcen müssten dann möglichst langfristig verfügbar gemacht werden. 

Gibt es Beispiele, wo solche Instrumente bereits eingesetzt werden?

Die Niederlande sind Vorreiter beim Thema Recycling. Kein Wunder – sie sind ein rohstoffarmes Land und müssen mit dem haushalten, was sie haben. Vor einigen Jahren haben dort die beiden Deutschen Thomas Rau und Sabine Oberhuber die Materialplattform “Madaster” entwickelt, eine Zusammensetzung aus Material und Kataster. Es ist ein Verzeichnis, das unserem Grundbuch ähnelt. Alle Grundstücke in Deutschland werden in einem Kataster eingetragen, das bei den Grundbuchämtern an zentraler Stelle geführt und laufend aktualisiert wird. So kann man auch an zentraler Stelle digital – wie das im Madaster der Fall ist – Gebäude mit den darin verbauten Rohstoffen registrieren. 

Wenn das alle Immobilieneigentümer*innen machen würden, hätte man sozusagen eine Flächenkarte Deutschlands, auf der man sieht, wo die ganzen Metalle, Beton, Holz und weitere Materialien in welchen Mengen verbaut sind. Man könnte in einer solchen Datenbank sogar aktuelle Preise hinterlegen. Das Gebäude würde damit zu einem echten „Wertstofflager“, und Bauherr*innen könnten jederzeit abrufen, wie viel Beton, Metall, Holz in ihrem Bauwerk vorhanden ist und welchem Wert die zurückzugewinnenden Stoffe entsprechen. 

Noch ist Madaster eine private und sich im Aufbau befindliche Institution. Wenn die Regularien zur Rohstoffentnahme angezogen werden, können sich solche Ideen aber hoffentlich durchsetzen.

Was wären die idealen Rahmenbedingungen, die die Politik vorgeben könnte, um zirkuläres Bauen zu unterstützen?

Man könnte es so weit treiben, dass es eine Art Pfand für Häuser gibt. Die Idee stammt nicht von mir, sondern von der Architektin Prof. Annette Hillebrandt, bei der ich promoviert habe. Sie sagt: Wir müssten lernen, in einer Art Pfandflasche zu leben. Wenn wir ein Haus bauen, bezahlen wir ein Pfand dafür. Wenn wir es hinterher zurückbauen, bekommen wir das Pfand wieder.

Damit dadurch nicht das Bauen verteuert wird, könnte man beispielsweise mit dem Urban Mining Index berechnen, was das Haus für eine Zirkularitätsrate hat. Wenn der Architekt gut geplant hat und man hohe Raten erreicht, ist das Pfand entsprechend niedrig oder existiert gar nicht. Wenn aber ein Haus als Abfalllager gebaut und den nachfolgenden Generationen jede Menge Müll hinterlassen wird, könnten sie von diesem Pfand wenigstens die Ruinen zurückbauen. Ein Pfand würde Bauherr*innen und Architekt*innen davon abhalten, einen Haufen Müll zu bauen. Sie würden umdenken und sehen, dass sie ein Wertstofflager bauen.

1. Preis für heri & salli im Wettbewerb „Nutzungsoffenes Stadthaus“ - H7A aspern Seestadt. Das Ende des Lebenszyklus sowie der Frage der Wiederverwertung (Demontabilität, Recycling, ressourcenschonender Abbau) sollte in den Entwürfen bedacht werden. Das Gewinnerprojekt setzt auf ein Holz-Modulbausystem.

1. Preis für heri & salli im Wettbewerb „Nutzungsoffenes Stadthaus“ - H7A aspern Seestadt. Das Ende des Lebenszyklus sowie der Frage der Wiederverwertung (Demontabilität, Recycling, ressourcenschonender Abbau) sollte in den Entwürfen bedacht werden. Das Gewinnerprojekt setzt auf ein Holz-Modulbausystem.

Gegen die Wiederverwertung von Materialien spricht das Vorurteil, dass damit häufig Qualitätseinbußen einhergingen. Warum?

Das ist tatsächlich der Fall, wenn die Wiederverwertbarkeit in der Planung nicht berücksichtigt wird. Nur wenn man es schafft, das Material eins zu eins zu recyceln – wie es bei Metallen der Fall ist –, ist der Kreislauf geschlossen. Natürlich gibt es Baustoffe, die heute noch nicht so konzipiert sind, dass man sie in einem geschlossenen Kreislauf halten kann. Wenn man zum Beispiel Beton in einer Recyclinganlage bricht, dann wird er zu einer rezyklierten Gesteinskörnung. Davon kann man nur einen gewissen Anteil für die Herstellung von neuem Beton einsetzen. Aber selbst dies wird viel zu selten praktiziert. Meistens landet gebrochener Beton im Straßenunterbau oder in der Verfüllung. Das ist absolutes Downcycling.

Auch bei vielen anderen Materialien ist die Verwertung noch mit einem Qualitätsverlust verbunden. Holz ist zum Beispiel ein wunderbarer Baustoff, mit dem man Kohlenstoff im Bauwerk speichert. Früher war es noch üblich, Bauholz nicht stofflich zu verwerten, sondern zum Beispiel tragende Balken einfach auszubauen und als solche wiederzuverwenden. Heute gibt es aber fast keinen Markt, um alte Substanz unverändert wiedereinzusetzen. Hinzu kommt, dass wir heute mit günstigerem Holz wie schnell wachsendem Nadelholz statt wertvoller Eiche bauen. Das führt meistens dazu, dass solche Materialien der Altholzverwertung zugeführt werden. Dann werden sie zerspant, und es können daraus etwa Spanplatten hergestellt werden. Eine Spanplatte hat aber keine tragende Funktion mehr, das wäre der erste Qualitätsverlust. Wenn die Spanplatte wiederum der Altholzverwertung zugeführt wird, könnte man sie vielleicht noch mal zerfasern und eine MDF-Platte pressen. Das nennt man Kaskadennutzung. Irgendwann sind die Fasern so klein, dass man sie nur noch verbrennen und nicht mehr recyceln kann.

Heute sind Gebäude oft noch wie Abfalllager gebaut: Die Materialien werden nach dem Abriss entsorgt. Stattdessen müssten sie als Wertstofflager gedacht werden.

Heute sind Gebäude oft noch wie Abfalllager gebaut: Die Materialien werden nach dem Abriss entsorgt. Stattdessen müssten sie als Wertstofflager gedacht werden.

Wie wird der Kaskadeneffekt im Urban Mining Index berücksichtigt?

Wenn ein Material nachgenutzt wird und dabei bereits Qualität einbüßt, geht es als Downcycling in die Pre-Use-Phase ein. Wenn das Material auch hinterher nicht eins zu eins recycelt oder wiederverwendet werden kann, dann wird es noch mal einen Qualitätsverlust erfahren und würde daher auch in der Post-Use-Phase als Downcycling eingeordnet werden. Somit zählt sozusagen beides nur zur Hälfte. Das ist vorerst ein pragmatischer Ansatz, den man natürlich noch weiterentwickeln und beispielsweise mit einem monetären Qualitätsverlust hinterlegen könnte. Wenn Beton gebrochen und als Rezyklat wiederverwertet wird, verliert er zum Beispiel etwa 88 % an Wert im Vergleich zum Kaufpreis.

Gibt es eine “ideale” Bauweise nach Urban Mining Index? 

Es gibt Materialien, die mehr oder weniger für zirkuläre Prozesse geeignet sind. Konstruktionen mit Metall oder Holz haben in der Regel höhere Zirkularitätsraten als Konstruktionen mit mineralischen Materialien. Metalle kann man sehr gut endlos im Kreislauf halten. Aus einem HEB-Profil, was eingeschmolzen wird, kann noch mal ein Rundprofil hergestellt werden, und die Qualität – die inhärente Eigenschaft des Materials – bleibt gleich. Wenn man Holz aus nachhaltiger Forstwirtschaft einsetzt, wird das ebenfalls dem geschlossenen Kreislauf zugeordnet, weil sichergestellt wird, dass es nachwächst. Wenn nach 100 Jahren ein Holzhaus abgebrochen wird – selbst wenn das Material verfeuert statt zerspant würde –, wäre in der Zeit der Kreislauf geschlossen worden, weil ein neuer Baum nachgewachsen ist. So muss man immer den technischen und den natürlichen Kreislauf betrachten. 

Das Recyclinghaus von cityförster: Der experimentelle Neubau eines Wohnhauses in Hannover verwendet gebrauchte Bauteile und Recyclingbaustoffe wie Holz und Metall.

Das Recyclinghaus von cityförster: Der experimentelle Neubau eines Wohnhauses in Hannover verwendet gebrauchte Bauteile und Recyclingbaustoffe wie Holz und Metall.

„Der experimentelle Neubau eines Wohnhauses aus gebrauchten Bauteilen und Recyclingbaustoffen optimiert die Ressourcenverwendung durch eine kreislauforientierte und ressourcenschonende Planung", urteilt die Jury über das Recyclinghaus.

„Der experimentelle Neubau eines Wohnhauses aus gebrauchten Bauteilen und Recyclingbaustoffen optimiert die Ressourcenverwendung durch eine kreislauforientierte und ressourcenschonende Planung", urteilt die Jury über das Recyclinghaus.

Wieso kann der Kreislauf bei anderen Materialien nicht geschlossen werden?

Bei mineralischen Materialien ist der Prozess des Brennens nicht rückgängig zu machen – jedenfalls noch nicht. In 50 Jahren sind wir vielleicht so weit, dass wir zum Beispiel Zement stofflich zurückgewinnen können. Das wäre ein großer Fortschritt, an dem die Betonindustrie zusammen mit der Wissenschaft arbeitet. Aber solange das nicht der Fall ist, kann man die Ausgangseigenschaften mineralischer Materialien nach dem Brennen nicht wiederherstellen. Die Plastizität, die das Material mal hatte, geht verloren. Wenn eine Wiederverwendbarkeit im Sinne eines Re-Use nicht möglich ist, kann man es im Grunde nur noch klein schreddern und Splitt daraus machen. Deswegen haben mineralische Materialien im Moment noch Nachteile. 

Eine Ausnahme ist Lehm, der zu den mineralischen Baustoffen zählt, aber nicht gebrannt wird. Damit ist er der einzige mineralische Baustoff, den man im geschlossenen Kreislauf halten kann. Bei diesen Konstruktionen sorgt Ton als natürliches Bindemittel für den Zusammenhalt. Lehmsteine oder Stampflehm können mit Wasser wieder plastifiziert werden. Dann können entweder neue Lehmbaustoffe daraus hergestellt oder das Material der Erde zurückgegeben werden.

Jiyan Health Garden vom Berliner Büro ZRS Architekten Ingenieure: Das Therapiezentrum in Kurdistan wurde aus lokalen Materialien und in Lehmbauweise errichtet.

Jiyan Health Garden vom Berliner Büro ZRS Architekten Ingenieure: Das Therapiezentrum in Kurdistan wurde aus lokalen Materialien und in Lehmbauweise errichtet.

Welche Zirkularitätsraten kann man heute maximal mit optimierten Bauweisen erreichen?

Die höchste Zirkularitätsrate, die ich festgestellt habe, lag bei einem kreislaufgerecht konzipierten Holzhaus bei etwa 80 Prozent. Auch in holzbasierten Materialien sind oft Anteile von Primärmaterial wie Leim. Diese Leime werden meistens aus Erdöl hergestellt, einem fossilen Rohstoff, der nicht ersetzbar ist. Wenn eine OSB-Platte verbrannt wird, kann das Holz nachwachsen, aber das Erdöl, was die Erde über Jahrmillionen geschaffen hat, ist zumindest in Zeiträumen des menschlichen Maßstabs verloren.

Wo liegt der Vergleichswert, wenn wir uns konventionelle Konstruktionen angucken?

Zirkularitätsraten von etwa 30 Prozent sind der Normalfall. Ich habe in meiner Dissertation das Rathaus in Korbach als komplettes Bauwerk durchgerechnet. Dabei habe ich festgestellt, dass die herkömmliche Bauweise eine Recyclingrate von etwa 32 Prozent gehabt hätte. Die Architekten haben die Details geplant, und wir haben sie gemeinsam optimiert. Anhand dieser Optimierung wurde dann der Urban Mining Indicator erneut ausgerechnet. Jetzt lag er bei etwas über 50 – immerhin eine Verbesserung um fast 20 Prozentpunkte. Viel mehr war bei diesem Bauwerk nicht möglich, weil wir den ursprünglichen Entwurf, der in einem Wettbewerb entschieden worden war, nicht verändern wollten. 

Bestand in Korbach vor dem Umbau des Rathausanbaus

Bestand in Korbach vor dem Umbau des Rathausanbaus

Wie sind Sie mit der vorhandenen Planung umgegangen, und welche Veränderungen haben Sie eingebracht?

Es war eine Fassade aus Betonfertigteilen vorgesehen. Nun könnte man bei einer Optimierung überlegen, ob es nicht sinnvoller wäre, eine Fassade aus Holz oder Metall zu planen. Das hätte allerdings nicht in diesen städtebaulichen Kontext gepasst und wäre dem Wettbewerb nicht gerecht geworden. Deswegen haben wir eine Fassade aus R-Beton-Fertigteilen geplant. Der Neubau für das Rathaus Korbach ist das erste Projekt in Deutschland, bei dem ein ganzheitliches Urban-Mining-Konzept umgesetzt wurde. 

Wir haben das alte Bestandsgebäude, was abgebrochen wurde, genutzt, die mineralischen Materialien ortsnah recycelt und direkt im Beton für den Neubau wieder eingesetzt. Auch bei der Neukonzipierung der Materialien haben wir darauf geachtet, möglichst recyclingfähige Materialien zu verwenden, die sortenrein eingebaut wurden. Es ist zwar eine Stahl-Beton-Skelettbauweise, aber es wurde auf Abklebungen und auf Putze im Innenraum verzichtet. Dadurch, dass keine unlösbaren Verbunde hergestellt wurden und die Materialien möglichst rein geblieben sind, kann vieles später leicht recycelt werden.

Beim Projekt Rathaus Korbach konnten rund 61 % des Abbruchmaterials aus dem Bestand für den Neubau verwertet werden: 6.006 t von 9.848 t (Stand 2021).

Beim Projekt Rathaus Korbach konnten rund 61 % des Abbruchmaterials aus dem Bestand für den Neubau verwertet werden: 6.006 t von 9.848 t (Stand 2021).

Wie kam es zur Anwendung des Urban-Mining-Konzepts beim Rathaus Korbach?

Die Stadt Korbach hat es sich mit dem Abbruch des alten Rathausanbaus nicht leicht gemacht und zuvor untersucht, ob man ihn nicht erhalten und umbauen kann. Der Anbau aus den 70er Jahren war damals nicht besonders sensibel in den städtebaulichen Kontext eingefügt worden. Aus städtebaulichen Gründen und weil eine Sanierung unheimlich aufwendig gewesen wäre, wurde am Ende beschlossen, einen Rückbau durchzuführen und an der Stelle neu zu bauen. Vonseiten der Stadt Korbach gab es aber den Wunsch, die alte Substanz zu verwerten. 

Im Wettbewerb hatte das Thema Urban Mining noch gar keine Rolle gespielt – es war eine glückliche Fügung, dass ich nicht nur an der Uni Wuppertal dazu geforscht hatte, sondern auch in der agn-Gruppe arbeite, die mit heimspiel architekten zusammen nach dem gewonnenen Wettbewerb den Planungsauftrag erhalten hatte. Als Co-Geschäftsführerin der agn-Tochter energum, eines Fachplanungsbüros für nachhaltiges Bauen und Bauphysik, konnte ich die Expertise, die ich mir an der Uni erarbeitet habe, sehr gut in diesem Projekt umsetzen.

Gewichtung im Urban Mining Index, Ergebnis der Berechnungen für den Neubau des
Rathauses in Korbach

Gewichtung im Urban Mining Index, Ergebnis der Berechnungen für den Neubau des Rathauses in Korbach

Für das Projekt bedeutet das jedoch einen höheren Planungsaufwand ...

Natürlich ist der Aufwand zunächst ein höherer. Die Expertise, die ich einbringe, zieht sich durch das ganze Projekt – von Optimierungen der Planung bis zur Begleitung der Ausschreibungen. Der selektive Rückbau und die Verwertung vor Ort bringen natürlich ganz andere Anforderungen mit sich. Da kann man keine Standardausschreibung für den Rückbau aus der Schublade ziehen, sondern muss sie selbst neu konzipieren. Dafür mussten wir beim Rathaus Korbach sehr viel Recherche in der Region betreiben und mit Abbruchunternehmern und Reyclingbetrieben sprechen, die bereit waren, das durchzuführen. 

Modelldarstellung des Projekts Rathaus Korbach

Modelldarstellung des Projekts Rathaus Korbach

Was bedeutet eine solch aufwendige und umfangreiche Planung für die Kosten des Projekts?

Zirkuläres Bauen und nachhaltige Prozesse kriegen im Moment einen richtigen Schub. Langsam wird uns bewusst, dass die Rohstoffe verknappen, und wir kriegen es an den Preisen zu spüren. Deswegen werden jetzt viele Menschen für ressourcenschonendes Planen und Bauen sensibilisiert. Ich hoffe, dass dieser Wandel dazu führt, dass die Politik Instrumente entwickelt, die das ganze wirtschaftlich unterstützen. Unser Mehraufwand in Korbach wurde beispielsweise vom Land Hessen gefördert. Wir wurden mit einem mehrstufigen Gutachten beauftragt, in dem wir das Konzept entwickelt und die Umsetzbarkeit geprüft haben und schließlich den ganzen Prozess dokumentieren. Dieses Gutachten soll als Grundlage für einen Leitfaden für ressourcenschonendes Bauen im Land Hessen dienen. Ein Anschub der zirkulären Bauwirtschaft mit Fördermitteln, ähnlich der Bundesförderung für effiziente Gebäude (BEG), würde die Bauwende natürlich beschleunigen.  

energum GmbH

Inhaber/Partner: 100%-Tochter der agn Niederberghaus & Partner GmbH

Spezialisierung: Die energum ist ein Fachplanungsbüro für Nachhaltiges Bauen und Bauphysik und bietet alle Leistungen von der Wettbewerbsbetreuung über die Planung und Beratung in der Ausführung bis zur Zertifizierung an.

Jahresumsatz: 1,7 Mio. Euro netto (2020)

Anzahl Mitarbeiter*innen: 9

Philosophie: Bei allen Bauprojekten, die wir mit Blick auf Nachhaltigkeit und Bauphysik betreuen, geht es uns darum, den Blick auszuweiten, ganzheitlich zu denken und ressourcen- und energieeffizient zu handeln. In Beratung und Planung zeigen wir unseren Auftraggebern, dass ein verantwortungsvoller Umgang mit den Ressourcen nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch sinnvoll ist.

Vorbilder: Ameisen sind gute Architekten. Sie bauen kluge, klimatisch optimierte Behausungen und sind sehr nützlich. Wir können viel aus der Bionik lernen!

Stärken: Ressourcen- und klimaschonendes Bauen

Größter Erfolg: Der Gewinn der DGNB Sustainability Challenge mit dem Urban Mining Index, weil dieser in besonderer Weise zukunftsweisend ist.

Bitterste Niederlage: Wir versuchen, jeder Niederlage mit der Weisheit von Samuel Beckett das Bittere zu nehmen: „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.”

Spricht von Planer- oder Bauherr*innenseite auch etwas gegen den Einsatz des Urban Mining Index in der Planung?

Höchstens der Aufwand, der mit der Berechnung verbunden ist. Momentan ist das Tool noch nicht frei am Markt verfügbar. Wir bieten die Anwendung des Urban Mining Index auf Anfrage als Dienstleistung an. Das Ziel ist es aber, dieses Tool öffentlich verfügbar zu machen. Es wurde nach meiner Promotion von der Universität Wuppertal weiterentwickelt und wird erstmals von den 18 internationalen Teams des Solar Decathlon Europe eingesetzt, der nächstes Jahr in Wuppertal stattfindet. Das ist eine Art Generalprobe, wie man im Theater sagt. Wenn diese bestanden ist, soll der Urban Mining Index auch anderen Anwender*innen zur Verfügung gestellt werden. 

Wo wollen Sie mit dem Urban Mining Index noch hin? Was sind die Pläne für die Zukunft?

Meine Arbeit war nur ein erster Schritt. Ich habe zum Beispiel einen Bauteilkatalog hinterlegt, wo verschiedenste Konstruktionen vorbewertet sind, was jetzt schon eine Hilfestellung für Architekt*innen bietet. Dafür war ich viel auf Rückbaustellen und habe mich sehr intensiv mit Recyclingraten von Materialien beschäftigt. Annette Hildebrandt und Johanna Seggewies haben im Atlas Recycling bereits sehr viele Daten zum Material Cycle Status veröffentlicht. 

Aber das muss kontinuierlich weiterentwickelt werden: Es müssen viel mehr Materialien hinterlegt und mehr Konstruktionen hinsichtlich der Rückbau- und Recyclingfähigkeit vorbewertet werden. Es wäre wünschenswert, dass daran weiter geforscht wird. Auch der Bereich der technischen Gebäudeausrüstung, die sehr viele recyclingfähige Materialien enthält, ist noch gar nicht abgebildet. 

Ansonsten kann ich nur hoffen, dass der Urban Mining Index sich verbreitet und Anwendung findet, und da helfen natürlich Publikationen wie bei competitionline oder auch Tagungen, bei denen ich über das Tool berichte. Wenn das Instrumentarium als Nachweismethodik in der Zertifizierung beispielsweise von der DGNB anerkannt würde und Anwendung fände, wäre es ein großer Schritt nach vorne für das zirkuläre Bauen.

Leben im Flaschenhaus: Das Bottle House auf Prince Edward Island in Kanada besteht aus mehr als 25.000 Flaschen, die der Fischer und Tischler Édouard T. Arsenault gesammelt hat, um sie zu Häusern zu verarbeiten.

Leben im Flaschenhaus: Das Bottle House auf Prince Edward Island in Kanada besteht aus mehr als 25.000 Flaschen, die der Fischer und Tischler Édouard T. Arsenault gesammelt hat, um sie zu Häusern zu verarbeiten.

Last but not least: Was ist Ihre Vision vom Bauen der Zukunft?

Meine Vision ist, dass wir konsistent, das heißt verträglich mit den Naturkreisläufen, bauen, nichts mehr entsorgen müssen und der Erde kaum noch Rohstoffe entnehmen. Wir leben in Häusern, die wie Pfandflaschen sind. Das geht vielleicht sogar über die Strategie des Urban Mining hinaus.

Dirk Hebel, Professor für nachhaltiges Bauen am Karlsruher Institut für Technologie, hat sich ebenfalls sehr viel mit Urban Mining beschäftigt und einige Veröffentlichungen zum Thema Bauen mit Abfall geschrieben. Er sagt inzwischen: "Urban Mining darf es in Zukunft nicht mehr geben. Wir müssen einen Schritt weiter gehen und Gebäude so planen, dass es nicht mehr so schwer wie in einer Mine ist, die Materialien zu entnehmen, sondern so einfach wie in einem Depot." 

Beim Urban Mining buddelt man – anstatt in der Erde – in der Stadt und macht die Rohstoffe dadurch wieder verfügbar. Die Materialien sollten aber so verfügbar bleiben, dass man jedes Gebäude wie ein großes Rohstofflager plant, bei dem man fast keinen Rückbau- oder Demontageaufwand mehr hat, um Materialien herauszunehmen. 

Ich hoffe, dass Politik, Wissenschaftler*innen, Bauindustrie und Planer*innen an einem Strang ziehen, sodass wir möglichst schnell an diesen Punkt kommen. Dafür habe ich die re!source Stiftung e. V. mitgegründet. Wir müssen uns bewusst machen, dass die Materialien, mit denen wir bauen, nicht unsere sind, sondern die Rohstoffe der nachfolgenden Generationen. Und wenn wir ihnen schon die Rohstoffe nehmen, weil wir unsere Erde ausbeuten, dann müssen wir sie wenigstens so verbauen, dass sie für die nachfolgenden Generationen verfügbar bleiben.

Frau Prof. Dr. Rosen, vielen Dank für das Gespräch.

Urban Mining Student Award 2021/2022

Der diesjährige Urban-Mining-Student-Award der Bergischen Universität Wuppertal und der agn Niederberghaus & Partner prämiert den kreativen Umgang mit Re-Use-Bauteilen aus der urbanen Mine "Karstadt am Herrmannplatz" in Berlin. Das zu bearbeitende Grundstück befindet sich nördlich-westlich angrenzend an das Karstadtgebäude und ist in einem städtebaulichen Vorschlag von David Chipperfield Architects im Prinzip der „Berliner Höfe“ als Massenstudie geplant. Die Teilnehmer*innen sollen Konzepte für Fassaden und Innenraumelemente
entwerfen und detaillieren und so baukonstruktive Lösungsansätze zum Prozess des „Re-Use Bauens“ entwickeln.

Hier geht es zur Auslobung des Wettbewerbs.

Die Teilnehmer*innen müssen sich bis 15.11.2021 über ihre betreuenden Hochschullehrer*innen per E-Mail anmelden.

Eine Ortsbegehung mit weitergehenden Informationen findet am Freitag, 22.10.2021, 13:30 Uhr im Hof des Karstadt-Gebäudes am Hermannplatz in Berlin Kreuzberg statt.

Kurzversion des Interviews

Wie funktioniert der Urban Mining Index?

Mit dem Urban Mining Index, den ich im Rahmen meiner Promotion entwickelt habe, kann man Zirkularitätsraten über den gesamten Lebenszyklus eines Bauwerks unter Berücksichtigung der Konstruktion berechnen und bewerten. Es gibt zwei übergeordnete Kriterien, wenn man über Rückbau- und Recyclingfähigkeit im Bauwesen spricht: Das eine ist die Recyclingfähigkeit der Materialien, und das andere ist die Fügung. Wir fügen Materialien fest zusammen, sodass sie oft nicht mehr lösbar sind. Darunter hat in den letzten Jahrzehnten die Recyclingfähigkeit gelitten, weil die Baustoffindustrie aufgrund erhöhter Anforderungen an Wärme-, Schall- und Brandschutz zum Beispiel Kompositbaustoffe entwickelt hat, die später beim Rückbau nicht sortenrein getrennt werden können. Mit den Zirkularitätsraten, die im Urban Mining Index berechnet werden, misst man den Aufwand, der mit dem Rückbau und der Trennung von Materialien verbunden ist. Das wird anschließend mit der Recyclingfähigkeit des Materials verrechnet.

Können Sie das an einem Beispiel erläutern?

Mit dem Urban Mining Index prüfen Architekt*innen, welchen Aufwand es bedeutet, die Konstruktion zurückzubauen. Dafür gibt es einen Faktor. Wenn etwas sehr leicht zu trennen ist – wie es bei einer losen Schüttung der Fall ist –, dann ist der Faktor eins, weil der Rückbauunternehmer das Material dem Bauwerk leicht entnehmen könnte und es dem Recycling zugeführt werden kann. 

Ist eine Konstruktion dagegen sehr schwer zurückzubauen, weil die Materialien fest miteinander verklebt sind, hätte das Rückbauunternehmen damit einen großen Aufwand und das Material wird in der Regel nicht recycelt. So eine Konstruktion erhält zum Beispiel einen Faktor von 0,6, der die Wahrscheinlichkeit des hochwertigen Recyclings mindert. Damit wird die Wirtschaftlichkeit des selektiven Rückbaus berücksichtigt.

Bei welchen Projekten kann der Urban Mining Index angewendet werden? 

Der Urban Mining Index kann in der Neubauplanung, aber auch in der Sanierungsplanung eingesetzt werden. Architekt*innen können das Tool in der Planung nutzen, um den Anteil recycelter Materialien zu maximieren. Darin gibt es zwei Kreisläufe, sogenannte Loops: Das eine ist die Pre-Use-Phase vor der Nutzung des Gebäudes. Was bringe ich an recycelten Materialien oder an erneuerbaren Rohstoffen ins Bauwerk ein? Dann gibt es die Post-Use-Phase bei einem Austausch oder einem finalen Rückbau, wenn Materialien entnommen und deren Kreislaufpotenzial Post-Use berechnet wird. Nehmen sie einen Weg der Wiederverwendung und des hochwertigen Recyclings? Das sind die Königsdisziplinen, weil man damit geschlossene Kreisläufe erzeugt. 

Gibt es eine “ideale” Bauweise nach Urban Mining Index? 

Es gibt Materialien, die mehr oder weniger für zirkuläre Prozesse geeignet sind. Konstruktionen mit Metall oder Holz haben in der Regel höhere Zirkularitätsraten als Konstruktionen mit mineralischen Materialien. Metalle kann man sehr gut endlos im Kreislauf halten. Aus einem HEB-Profil, was eingeschmolzen wird, kann noch mal ein Rundprofil hergestellt werden, und die Qualität – die inhärente Eigenschaft des Materials – bleibt gleich. Wenn man Holz aus nachhaltiger Forstwirtschaft einsetzt, wird das ebenfalls dem geschlossenen Kreislauf zugeordnet, weil sichergestellt wird, dass es nachwächst. Wenn nach 100 Jahren ein Holzhaus abgebrochen wird – selbst wenn das Material verfeuert statt zerspant würde –, wäre in der Zeit der Kreislauf geschlossen worden, weil ein neuer Baum nachgewachsen ist. So muss man immer den technischen und den natürlichen Kreislauf betrachten. 

Welche Zirkularitätsraten kann man heute maximal mit optimierten Bauweisen erreichen?

Die höchste Zirkularitätsrate, die ich festgestellt habe, lag bei einem kreislaufgerecht konzipierten Holzhaus bei etwa 80 Prozent. Auch in holzbasierten Materialien sind oft Anteile von Primärmaterial wie Leim. Diese Leime werden meistens aus Erdöl hergestellt, einem fossilen Rohstoff, der nicht ersetzbar ist. Wenn eine OSB-Platte verbrannt wird, kann das Holz nachwachsen, aber das Erdöl, was die Erde über Jahrmillionen geschaffen hat, ist zumindest in Zeiträumen des menschlichen Maßstabs verloren.

Wo liegt der Vergleichswert, wenn wir uns konventionelle Konstruktionen angucken?

Zirkularitätsraten von etwa 30 Prozent sind der Normalfall. Ich habe in meiner Dissertation das Rathaus in Korbach als komplettes Bauwerk durchgerechnet. Dabei habe ich festgestellt, dass die herkömmliche Bauweise eine Recyclingrate von etwa 32 Prozent gehabt hätte. Die Architekten haben die Details geplant, und wir haben sie gemeinsam optimiert. Anhand dieser Optimierung wurde dann der Urban Mining Indicator erneut ausgerechnet. Jetzt lag er bei etwas über 50 – immerhin eine Verbesserung um fast 20 Prozentpunkte. Viel mehr war bei diesem Bauwerk nicht möglich, weil wir den ursprünglichen Entwurf, der in einem Wettbewerb entschieden worden war, nicht verändern wollten. 

Spricht von Planer- oder Bauherr*innenseite auch etwas gegen den Einsatz des Urban Mining Index in der Planung?

Höchstens der Aufwand, der mit der Berechnung verbunden ist. Momentan ist das Tool noch nicht frei am Markt verfügbar. Wir bieten die Anwendung des Urban Mining Index auf Anfrage als Dienstleistung an. Das Ziel ist es aber, dieses Tool öffentlich verfügbar zu machen. Es wurde nach meiner Promotion von der Universität Wuppertal weiterentwickelt und wird erstmals von den 18 internationalen Teams des Solar Decathlon Europe eingesetzt, der nächstes Jahr in Wuppertal stattfindet. Das ist eine Art Generalprobe, wie man im Theater sagt. Wenn diese bestanden ist, soll der Urban Mining Index auch anderen Anwender*innen zur Verfügung gestellt werden. 

Frau Prof. Dr. Rosen, vielen Dank für das Gespräch.

Der Artikel erschien erstmals am 24. September 2021 auf competitionline.com.