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Offenes Verfahren | 11/2022

Testplanung für den Masterplan Hauptbahnhof / Central 2050 in Zürich (CH)

2. Stufe

Van de Wetering l Atelier für Städtebau GmbH

Stadtplanung / Städtebau

Hager Partner AG

Landschaftsarchitektur

Basler & Hofmann AG

Bauingenieurwesen, Verkehrsplanung

Beurteilung durch das Preisgericht

Städtebau, Stadtraum & Freiraum
Die städtebauliche Vision für den Masterplan HB / Central 2050 des Teams Van de Wetering basiert auf einer hohen Gewichtung des Fussverkehrs «Power of the Pedestrian» und drei übergeordneten Leitideen: der grosszügige Stadtraum, zwei Bahnhöfe – viele Identitäten und das Ringsystem.

Der grosszügige Stadtraum: Ein grosszügiger Stadtraum erstreckt sich von der Europaallee über die Limmat zum Central und vom Platzspitz bis zur Uraniastrasse. Er ist durchgehend hindernisfrei, attraktiv gestaltet und bietet besonders viel Platz für den Fussverkehr «Power of the Pedestrian», die übrigen Verkehrsflächen sind stark reduziert. Die Lage beidseitig der Limmat wird als grösste Besonderheit des Raums HB / Central verstanden und mit dem «Sprung über die Limmat» thematisiert.

Zwei Bahnhöfe – viele Identitäten: Die Sihl gliedert den Hauptbahnhof in zwei Teile, den traditionellen «Hauptbahnhof» im Bereich des historischen Bahnhofgebäudes und den modernen Bahnhof «Zürich-Sihl» westlich der Sihl (Passage Sihlquai mit Aufgängen zum Europaplatz bzw. zum Zollplatz). Die Unterscheidung der zwei Bahnhöfe und die Besonderheiten der verschiedenen Bahnhofseiten bilden die Ausgangslage für eine differenzierte Nutzung und Gestaltung. Der «Hauptbahnhof» wird als zentrale Dreh- scheibe mit dreiseitiger Ausstrahlung zum Bahnhofplatz im Süden, dem Museumsplatz im Norden und dem Bahnhofquai / Limmatraum / Central im Osten gelesen. Der Bahnhof «Zürich-Sihl» orientiert sich zum Kreis 5 im Norden und der Europaallee im Süden; in Bezug auf die Anbindung ans städtische ÖV-Netz spielt er laut Team Van de Wetering eine untergeordnete Rolle.

Das Ringsystem: Die vielen und unterschiedlichsten Interessen, die im Raum HB – Central aufeinandertreffen, machen ihn zu einem hochkomplexen Ort. Zur Stärkung der Synergien und zur Vermeidung von Konflikten wird konzeptionell ein Ringsystem etabliert, mit dem die verschiedenen Ansprüche priorisiert und gegliedert werden. Im innersten und ersten Ring liegt das sehr stark frequentierte Dreieck Bahnhofplatz – Bahnhofquai – Central mit mondäner Ausstrahlung und grossen Fussverkehrsströmen. Hier gibt es ungestörte, sichere Fusswege und Umsteigebeziehungen sowie Runshopping und Take-Away-Angebote. Im zweiten Ring wird das Tram angeordnet und in zwei Polen gebündelt. Im dritten Ring fährt das Velo «in der dritten Reihe». Hier gibt es auch ruhige, gut vernetzte und quartierorientierte Freiräume mit ergänzenden Einkaufs- und Gastronomieangeboten. Der MIV wird in eine vierte Reihe ausserhalb des eigentlichen Bahnhofsareals verlagert. «Aufräumen» ist das Stichwort, das die Voraussetzungen für den grosszügigen Stadtraum, die erste übergeordnete Leitidee, schafft.
Das Team Van de Wetering zeichnet eine städtebauliche Vision für den Raum HB – Central, die ein grosses Potenzial für diesen für Zürich so zentralen Stadtraum verspricht. Die Umsetzung der Leitideen, auf denen die Vision basiert, namentlich das Ringsystem mit der neuen Organisation des Verkehrs, insbesondere des MIVs, verlangt allerdings von Öffentlichkeit und Politik klare Bekenntnisse und grosse Anstrengungen.

Die beindruckende Bearbeitungstiefe über alle Disziplinen ermöglicht die dazu notwendigen Diskussionen.

Besonders interessante Elemente der städtebaulichen Vision sind:
  • Die Begrünung der Ufer von Limmat und Sihl verbindet die beiden städtischen Flussräume mit dem Platzspitzpark, die besondere Lage des Bahnhofs Zürich am Rand des Parks und am Wasser wird erlebbar.
  • Der Brückenschlag vom Bahnhofquai über die Limmat zum Neumühlequai und Central. Räumlich, aber auch buchstäblich führt eine Fussverkehrsbrücke zur neuen Tramhaltestelle am Neumühlequai.
  • Der Fussverkehrssteg über die Sihl erweitert das Fusswegnetz von der Europaallee über die Schützengasse und über den neu positionierten Mühlesteg direkt zum Limmatquai. Auch dies erhöht die Durchlässigkeit und die stadträumliche Qualität.
  • Die Befreiung der Plätze, nicht nur vom MIV, sondern auch von den Tramhaltestellen eröffnet ganz neue Gestaltungsmöglichkeiten, Orientierung, Aufenthalts- und Nutzungsqualitäten.

Für die Befreiung der Plätze werden die Tramhaltestellen in Strassenräume verschoben, mit klaren Vorteilen zumindest aus stadträumlicher Sicht. Zwischen Central und Bahnhofquai / Bahnhofplatz nimmt die Bahnhofbrücke die Haltestellen auf. Hier ist das Risiko gross, dass der Limmatraum räumlich zäsiert wird, was die städtebauliche Vision empfindlich schwächen würde.

Sozialraum
Fussgänger*innen zuerst – und zwar hindernisfrei, sicher und mit einer guten Orientierung, lautet eines der zentralen Prinzipien im Ansatz des Teams Van de Wetering. Die Macht des Fussverkehrs wird als eine Spezifik erkannt, die den Raum um den Hauptbahnhof als Mobilitätsdrehscheibe voraussichtlich auch Mitte des 21. Jahrhunderts noch prägen wird. Entsprechend ist die Perspektive der Fussgänger*innen systematisch auf allen Ebenen des Vorschlags hoch gewichtet. Aus sozialräumlicher Perspektive liegt in dieser Priorisierung die grossartige Chance des Ansatzes: Es soll viel Platz geschaffen werden für Durchgangs-, Begegnungs- und Aufenthaltsqualitäten. Durch das «Aufräumen» werden die vom MIV-befreiten, begrünten und durch Entsiegelung und Baumkronen gekühlten neuen Stadträume frei für unterschiedliche Nutzungen und Aneignungsmodi.
Allerdings werden die zurückgewonnenen Qualitäten in den zentralen Räumen Bahnhofplatz und Museumsplatz erst in relativ langfristiger Perspektive erfahrbar. Rasche und für breite Bevölkerungsgruppen relevante Aufwertungsmassnahmen betreffen das Central sowie die Uferzonen von Sihl und Limmat, die bereits in der ersten Etappe zugänglich werden und damit die einzigartige Lage des Hauptbahnhofs zwischen zwei Flüssen erlebbar machen.
Eine besondere Qualität des Ansatzes liegt in der durch das Ringsystem gestärkten Orientierung. Unterschiedliche «Geschwindigkeiten», Identitäten und Ausstrahlungen der Stadträume in den verschiedenen Ringsequenzen werden zu Ausgangsbedingungen für spezifische Gestaltungen. So schafft das Freispielen und Inszenieren von identitätsstiftenden Bestandsbauten und Grünräumen auch einen sozialräumlichen Mehrwert: Das Bahnhofquartier wird wieder hochgradig erkennbar und die unterschiedlichen Qualitäten der Räume mit Bezug zu den «zwei Bahnhöfen» (Sihlraum, Europaplatz und Zollplatz vs. Limmatraum, Bahnhofplatz, Central / Neumühlequai) werden erfahrbar.
Der Beitrag schafft starke Bilder und suggestive Vorstellungswelten, es macht die Qualitäten der angestrebten Massnahmen im Postkartenformat erkennbar. Gezeigt wird in diesen Bildern aber ausschliesslich die «Sonnenseite» urbanen Lebens. Die Perspektiven fokussieren auf die Nutzungsbedürfnisse gesellschaftlich hoch integrierter urbaner Bevölkerungsgruppen wie mobile Arbeitstätige und Konsument*innen im mittleren Alter. Die soziale Schere zwischen diesen Bevölkerungsgruppen und jenen mit prekäreren Lebensbedingungen oder weniger reibungslosen Raumnutzungen, die sich in Zukunft voraussichtlich noch weiter öffnen wird, gelangt nicht in den Blick; die Raumnutzungsbedürfnisse von Jugendlichen, älteren und hochaltrigen Menschen, Migrant*innen, Ge- flüchteten, Fussballfans, Reisegruppen, Demonstrant*innen, Randständigen usw., die im Bahnhofsraum unverzichtbar zum Leben der Stadt gehören, müssen ebenfalls berücksichtigt werden. Die Robustheit der neuen Stadträume für die Herausforderungen durch ein extrem breites und heute noch nicht restlos abschätzbares Spektrum von Nut- zer*innen und Nutzungen, die auch in Zukunft grundlegend sein werden für städtisches Leben, müsste noch aufgezeigt werden.

Stadtklima
Das Team sieht entlang dem Bahnhofquai und dem Papierwerd-Areal eine doppelte Baumreihe auf einer Grünfläche, sowie Treppen zur Limmat auf der ganzen Länge vor. Beim Bahnhofquai ist zudem eine mehrheitlich entsiegelte Platzfläche mit Wasserspielen und vereinzelten Bäumen angedacht. Beim Central werden ebenfalls Flächen entsiegelt und Bäume vorgeschlagen, die Abkühlung bringen sollen. Beim Bahnhofplatz wird, wie beim Central, durch die Verschiebung der Haltestellen Platz freigespielt und Bäume in den ehemaligen Treppenabgängen vorgeschlagen. In Kombination mit den Massnahmen an der Oberfläche, unversiegelte Materialisierung und Wasserspiele, wird so ein grossflächiger klimatisch angenehmer Bereich auf dem Platz ermöglicht. Die ex- ponierte Südseite des Hauptgebäudes sollte dabei aber im Sommer besser gegen die Sonne geschützt werden. Bei der Gessnerallee werden zwar die Tramtrassen begrünt, aber es werden die bestehenden Bäume für die Verschiebung der Strasse geopfert.
Die vorgeschlagenen Massnahmen beim Zoll- sowie Löwenplatz bringen auch eine klimatische Verbesserung zur heutigen Situation. Ebenso wird der Museumsplatz durch die Bepflanzung mit Bäumen auf der Nordseite des HB klimatisch verbessert, wobei dieser Bereich unterbaut ist und die tatsächliche Umsetzbarkeit deshalb erst aufgezeigt werden muss. Die vorgeschlagenen Massnahmen bringen eine wesentliche Verbesserung zu heute, sind aber ebenfalls angesichts des erwarteten zukünftigen Klimas nicht genügend.
Die qualitative Interpretation der Wirksamkeit der Handlungsansätze aus der Fachplanung Hitzeminderung der Stadt Zürich ist hier eine stufengerechte Anwendung. Diese erlaubt eine flächen- oder objektbezogene Zuweisung der Wirkung, was eine klare Abbildung erleichtert und hier gut dargestellt ist. Jedoch wurden die Wirkungsperimeter nicht abgebildet. Diese Betrachtungsweise hat aber auch die Beschränkung, dass Wirksamkeiten auf optimalen Konditionen beruhen, die Pflanzen also beispielsweise genug Wasser zur Verfügung haben, was bei einer Hitzeperiode meist nicht gegeben ist. Ist zu wenig Wasser vorhanden, so verlieren pflanzenbasierte Massnahmen ihre Wirksamkeit teilweise oder komplett. Welche Massnahmen werden dann eingesetzt?
Kombiniert mit der Karte «Hitzebelastung im Strassenraum» könnte überprüft werden, wie weit die heutige Wärmebelastung reduziert werden kann. Positiv ist, dass bereits die möglichen Baumarten und die Ökologie thematisiert werden. Das Team schlägt auch eine Begrünung der Dachflächen des HB vor. Der Gebäudekomplex (mit Perrons) sollte noch mehr in die Betrachtungen mit einbezogen werden. Die räumliche Anordnung der klimatischen Massnahmen im Raum scheint hier kohärent.

Verkehr
Die zugrunde gelegte Prämisse mit einer Reduktion der MIV-Ströme um rund 20 bis 35 Prozent im Raum HB / Central, gekoppelt mit einer MIV-freien Achse Löwenstrasse – Bahnhofplatz – Central und der Verlegung der Tramhaltestelle HB / Bahnhofplatz in die umliegenden Zufahrtsachsen, schafft ein substanzielles Verbesserungspotenzial, namentlich für den Fuss-, aber auch für den Veloverkehr. Einerseits werden dadurch die Fusswegdistanzen für ÖV-Umsteigende zwischen Tram und Bahn teilweise zwar markant vergrössert, andererseits wird für die Fussgänger*innen flächiges Queren des Bahnhofplatzes in weiten Teilen ermöglicht, sofern tatsächlich nur zwei Tramgleise nötig sind. Von heute 14 Auf-/Abgängen im Bereich Bahnhofplatz, bestehend aus Treppen- oder Rolltreppenanlagen, teilw. auch kombiniert, verbleiben im Vorschlag des Projekt- teams noch drei Auf- und Abgänge. Die Auswirkungen dieser Reduktion auf die Perso- nenströme sind noch ungeklärt. Der Querungsdruck auf die Infrastrukturanlagen des ÖV wird dadurch aber deutlich zunehmen. Ebenso ist mit einer deutlich höheren Belastung der verbleibenden Auf- und Abgänge zu rechnen. Die Konsequenzen auf die Sicherheit sind noch offen. In der Bilanz werden die hoch frequentierten Tramhaltestellen südlich des HB um eine Haltestelle reduziert; was das für die Personenströme bedeutet, ist noch ungeklärt.
Mit der neuen Tramführung über den Neumühlequai und der Verlegung der Tramhalte- stelle Central auf die Bahnhofbrücke wird das Tramnetz betrieblich neu gedacht und das Central für Fussgänger*innen aufgewertet. Die vorgeschlagene Linienführung von Tram 4 und 15 sind so denkbar und eine Chance für die Entlastung von Bahnhofquai und Central. Die Bestrebung, mit der Ersatz-Doppelhaltestelle auf der Bahnhofbrücke eine behindertengerechte Lösung umzusetzen ist positiv zu würdigen, gelingt aber nicht konsequent. Einerseits ist eine Doppelhaltestelle aus Sicht von Sehbehinderten keine opti- male Lösung, da die Position der Trams in der Haltestelle oft nicht bestimmt werden kann. Diese hängt von der Knotensteuerung bei eng aufeinander folgenden Kursen ab. Andererseits liegen längere Wege zu den ÖV-Haltestellen nicht im Sinne von mobilitätseingeschränkten Menschen.
Wie weit die vorgeschlagene Durchbindung der Buslinien 31 und 46 Sinn macht, ist aufgrund der aktuellen VBZ-Netzentwicklung zu überprüfen.
Für die Velofahrenden wird ein hierarchisches und logisch aufgebautes Angebot geschaffen, das die Durchgängigkeit des Netzes sowie Erschliessung und Erreichbarkeit des Raums HB / Central sicherstellt. Der das Bahnhofgebiet querende Veloverkehr er- hält bei den Querungen Bahnhofquai, Museumstrasse und beim Central massiv bessere Bedingungen.
Im MIV-Netz müssen als eine Konsequenz alternative Achsen, insbesondere die Ost- Westachse Mühlegasse – Uraniastrasse, stärker belastet werden. Welche weiteren Konsequenzen (flankierende Massnahmen) bzw. Voraussetzungen sind dafür zu schaffen?
In diesem Ansatz mit einem weitgehend vom MIV befreiten Bahnhofumfeld wird vorbildlich aufgezeigt, welches Optimierungspotential für den Fuss- und Veloverkehr entsteht. Die Dominanz der Verkehrsinfrastrukturen für den MIV wie auch für den öffentlichen Verkehr kann massiv reduziert werden. Auf Grund der betrieblichen Analysen kann auch vermutet werden, dass aus diesem Konzept substanzielle betriebliche Optimierungen für den Trambetrieb resultieren.
Der verkehrliche Ansatz des Teams Van de Wetering ist in seiner Gesamtheit konsistent und führt mit seinen prägnanten Eingriffen zu einer weitreichenden Neudisposition des heutigen Verkehrssystems.