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2-phasiger städtebaulicher Ideen- und Realisierungswettbewerb | 07/2021

Quartiersentwicklung an der Leonhardstraße in Kempten

Anerkennung

Preisgeld: 12.000 EUR

Beer Bembé Dellinger Architekten und Stadtplaner

Architektur, Stadtplanung / Städtebau

Michael Wenzel Landschaftsarchitektur

Landschaftsarchitektur

Erläuterungstext

Quartier an der Leonhardstraße

Lebendige Quartiere sind geprägt von nutzbaren öffentlichen und privaten Freiräumen. Es sind die Räume durch die wir uns bewegen und unsere Umgebung, unsere Wohn- und Lebensumfelder erkunden und kennenlernen. Sie sind der Ort, wo wir uns treffen und einander begegnen, wo wir miteinander diskutieren, streiten, verhandeln und uns versöhnen. Für das Selbstverständnis und das Bestehen einer offenen Gesellschaft ist der Wert dieser Räume kaum zu überschätzen. Auf Quartiersebene entscheidet dieses Raumkontinuum über Akzeptanz und (Wohn-)Qualität lebendiger Nachbarschaften. Gerade im Zuge der Corona-Pandemie spüren wir wieder was uns fehlt, wenn wir einander nicht mehr begegnen können. Wie sehr wir die Öffentlichkeit vermissen. Anlass genug, dem öffentlichen Raum wieder mehr Beachtung zu schenken und ihn in Anspruch zu nehmen, sich verantwortlich für ihn zu fühlen.

Dabei orientiert sich der Entwurf einer dem industriell genutzten Areal eingeschrieben einfachen städtebaulichen Logik: Ähnlich der derzeit orthogonal und effizient erschlossenen Produktionshallen arbeitet der Entwurf mit ablesbaren, flexibel entwickelbaren Baufeldern ähnlicher Größen. Diese simple Anordnung schafft durch die präzise Setzung eine intuitive Orientierbarkeit und bildet abwechslungsreiche, individuell bespielbare und aneigenbare (Frei-)Räume.

Die Leonhardstraße wird baulich gefasst und erhält auch auf dem südlichen Gegenüber einen Vorschlag einer städtebaulichen Setzung. Rund um das erhaltene Pförtnerhaus entsteht eine neue Adresse, ein Auftakt ins Quartier, der sich mit der Geschichte des Ortes auseinandersetzt und gemeinschaftlichen Raum für kreatives Kleingewerbe, Werkstätten und Co-working-spaces anbietet als quasi „kleines Werksviertel“. Es werden so Bereiche des wenig Überplanten geschaffen, für Bedarfe und Aneignungen, die erst durch das Angebot entstehen.

Über diesen Ort gelangt man auf einem qualitativen öffentlichen Verkehrsraum, der Fußgänger*innen und Fahrradfahrer*innen priorisiert, in die neue Quartiersmitte. Hier spannt sich ein baulich gefasster Raum auf. Diese lebendige Mitte adressiert die angrenzenden gemischten Wohncluster. Aktive Erdgeschosszonen beleben den Raum. Ein Bürgerhaus bildet den sozialen Mittelpunkt für Nachbarschaften, Vereine und Jugendorganisationen. Eine weitläufige, grüne Allmende als Quartierswiese genügt vielfältigsten Ansprüchen: Toben, Bolzen, Ruhen, Gärtnern, Nachbarschaftsfeste. Alles ist hier möglich. Und die Punkthäuser bilden dabei die Raumkante für die Allmende und die Allmende den Nahbezug für die Punkthäuser.

Die Baufelder selbst versuchen, die Vorteile der Zeilenbebauung mit einhergehend möglichst gleichwertigen Wohnverhältnissen und die Vorteile der Punktwohnbauten, einer Bebauung ohne Rückseite und mit ungestörten Blickbeziehungen, mit den stadträumlichen Vorteilen der Blockrandbebauung zu verschmelzen. Es entstehen so Wohncluster aus Zeile und Punkt, welche sich um je einen Wohnhof gruppieren. Die Stellung und die Höhenentwicklung der Punktbauten erfüllen dabei die Aufgabe der Raumbildung - des öffentlichen Raumes wie des privateren Wohnhofes. Die Nachteile der Blockrandbebauung, die schwer zu belichtende Ecke, werden dabei aber umgangen.

Die Adressierung der einzelnen Wohnungen erfolgt von außen über die gemischt genutzte Straßenräume. Im Inneren der Cluster liegen die halbprivaten Gärten der Zeilenbebauungen ergänzt um gemeinsam genutzte Freibereiche. Die Wohnungen der Punktbauten erhalten große Loggien, überwiegend in den Ecken der Gebäude und ein zusätzliches Freiraumangebot auf den gemeinschaftlichen Dachgärten der Zeilen. Die Zeilen sind demensprechend auch für die größeren Wohneinheiten vorgesehen, welche zum Teil auch als Maisonettewohnen vorgeschlagen werden mit eigener Haustüre zum Straßenraum. Und die Punktbauten werden überwiegend mit den kleineren Wohnungen belegt. Die Vorteile der Wohnlagen, ob nun eher in den unteren Geschossen mit dem Vorteil des kleinen, eigenen Gartens, oder eher in den oberen Geschossen mit weitem Blick, lassen die jeweils spezifischen Vorteile der Orte verstärkt zum Tragen kommen.

Zeile und Punkt als einfache Typologie im Bauen, ohne den Konflikten in den Ecken, sollen ab Oberkante Kellerdecke in Holz errichtet werden. Neben der Vermeidung von verbauter grauer Energie versprechen wir uns hier auch eine neue Identitätsstiftung für das Viertel, welche durch die Materialisierung eben mit Holz mitgetragen wird. Die Dächer der Zeilenbebauung werden mit begrünten Dachgärten genutzt und die Dächer der Punktbauten stehen für solare Nutzung zur Verfügung.

Zwischen den Wohnclustern stellen Gassen unterschiedliche Bezüge in die Umgebung her. Die nördlichen Baufelder bilden am Übergang zum Park besondere Zwischenräume aus. Das bestehende Skelett der Sheddachhalle wird erhalten und berichtet als nutzbares Signet von der Vergangenheit des Ortes. Hier finden Spiel, Werken im Freien und Treffen gleichermaßen statt. Während die Gassen Erschließungsfunktionen übernehmen, bilden die Baufelder grüne, gärtnerisch geprägte Mitten, die sowohl als Privatgärten als auch als gemeinschaftlich genutzte Räume vorstellbar sind.

Als sechste Cluster, im Osten des Quartiers nahe des Schuhmacherringes, wird ein robuster, gewerblich geprägter Baustein vorgeschlagen, welcher der Nahversorgung für das neue, wie auch für alle umliegenden Quartiere, auch der Quartiere östlich des Schuhmacherringes dient. Im Sinne einer urbanen Nutzungsmischung sollen das Erdgeschoss die Nahversorgung und ergänzende Angebote aufnehmen und in den Obergeschossen neben Wohnen auch andere wohnverträgliche Gewerbeflächen entstehen, ob für Coworking, Serviced Apartements oder Ähnlichem.

Der südlich des Clusters liegende Platz vermittelt hier als Gelenk zwischen den einzelnen Quartieren. Dieser Platz schafft einen belebten Ankommens-Bereich über die von Osten kommende Fahrradbrücke. Hier wird das Freiraumkontinuum vollendet und fügt sich zu einem ganzheitlich erlebbaren Raum, der bewusst unterschiedlich gestaltete und räumlich formulierte Teilbereiche bildet. Nicht zuletzt wird die Fußgänger- und Fahrradverbindung in Richtung Innenstadt durch das Quartier geführt und integriert den neuen Baustein in das städtische Gesamtgefüge.

Beurteilung durch das Preisgericht

Die durchaus sehr interessante Arbeit wird kontrovers diskutiert: städtebauliche Qualitäten stehen wohnungswirtschaftlichen Mängeln gegenüber. Die Grundidee, den Geist des Ortes aufzunehmen und die vorangegangene industrielle Nutzung in den städtebaulichen Entwurf einzuweben, überzeugt. Ebenso positiv werden die mannigfaltigen Qualitäten im weitgehend autoarmen öffentlichen Raum bewertet. Durch den Vorschlag, rund um die Allmende Dienstleistungs- und Kulturangebote anzulagern, verspricht das Herzstück des Quartiers sehr lebendig und nachbarkeitsfreundlich zu werden. Auch die Differenzierung der Gebäudezwischenräume in ruhige Gartenhöfe und kommunikationsfördernde Gassen ist gut herausgearbeitet und verspricht eine eindeutige Verhaltensorientierung. Die Vernetzungen sowohl mit dem Engelhaldepark als auch der westlich angrenzenden Wohnbebauung bis hin zur Iller und damit zur Innenstadt sind stimmig. Das gesamte Freiraumkonzept lässt nicht nur einen hohen Durcharbeitungsgrad und eine große Ideenvielfalt erkennen, sondern vermittelt auch den Eindruck, dass für die Verfasser der Mensch im Mittelpunkt ihrer Überlegungen steht. Leider setzen sich die beschriebenen Vorzüge in den Gebäuden nicht fort. Sehr problematisch erscheinen v. a. die Punkthäuser aufgrund ihrer Dimension. Sie sind hinsichtlich einer Grundrissoptimierung unflexibel. Die Nordostwohnungen sind mehr oder weniger unverkäuflich. Darüber hinaus erscheint der Gebäudeabstand zu gering. Auch könnten die 26 baugleichen Häuser eventuell eine gewisse Monotonie, verbunden mit einer schweren Auffindbarkeit, erzeugen. Als gravierender Minuspunkt wird der fehlende Schallschutz angesehen. Der Aktivplatz am Auslauf des Fußgängerstegs wird einerseits als gelungene Geste begrüßt, jedoch sind Konflikte mit der angrenzenden Wohnbebauung vorprogrammiert. Zusammenfassend wird festgehalten, dass die Qualitäten eindeutig im Freiraum, nicht im Wohnungsbau liegen.