modgnikehtotsyek
ALLE WETTBEWERBSERGEBNISSE, AUSSCHREIBUNGEN UND JOBS Jetzt Newsletter abonnieren
2. Rang 3 / 3

Hochbauliches Werkstattverfahren | 04/2023

Quartiersentwicklung mit Schwerpunkt Circular Economy im Wilhelmsburger Rathausviertel

Visualisierung

Visualisierung

3. Rang

JAN WIESE ARCHITEKTEN

Architektur

Erläuterungstext

Wilhelmsburger Fachwerk - Bauen mit dem, was da ist.

100 Jahre ist der „International Style” jetzt alt. Ein kurzes Zeitfenster, in dem die internationalisierte Architektur, die von dem Grundgedanken ausgeht, dass jedes Material überall auf der Welt zur Verfügung steht und regionale Abhängigkeiten nicht relevant sind, ein hervorragende Rolle spielte. Auch hundert Jahre gehen vorbei. Heute baut man am besten wieder mit dem, was da ist. Neben den herkömmlichen regionalen Rohstoffe existieren jetzt viele neue, zusätzliche Rohstoffe, die durch Wiederverwendung und Wiederverwertung in den Bauprozesse integriert werden. Da vor hunderten Jahren die regionalen Baumeister schon am besten wußten, wie man effizient mit vorhandenem oder gefundenem baut, entsteht das Projekt Wilhelmsburger Fachwerk aus dem Prinzip einer alten weit verbreiteten, aber dennoch regionalen Bauweise: Dem Fachwerkbau. Aus Stiel, Ständer, Strebe und Schwelle konnten mit wenig Holz- und Materialeinsatz ganze Häuser entstehen. War das Fachwerk errichtet, erkannte der Nachbar eine städtebauliche Figur, eine Körnung - einen Raum. Zum Ausfüllen der Zwischenräume konnten Materialien eingesetzt werden, die vor Ort verfügbar waren: Flechtwerk mit Lehmbewurf, Lehmwickel mit Kalk- oder Lehmputz oder Auslagerungen aus Backsteine, Bruchsteinen oder Lehmbausteine. Je nach Bauart wurden die Ausfachungen verputzt oder wenn nicht gewünscht, eben auch nicht. Das Zusammenspiel von Struktur und Ausfüllen, von Städtebau und Architektur oder Raum und Oberfläche ist Grundlage für das neue Wilhelmsburger Fachwerk. Ein Holzskelett mit Betonsockel und -kern bilden die Struktur die, durch Holzständerbauweise in der Lage ist, alle verfügbaren Materialien aufzunehmen, die gefunden werden können: Ausfachungen durch einjährig nachwachsenden Dämmstoffe, Lehmstein oder alte Dämmung - von Innen Holz oder Lehmputz, wenn überhaupt nötig - Fenster in allen Größen - Und vorgehängte oder vorgestellte Fassaden aus wiederverwendetem Stein, Metall, Holz oder was sich gerade anbietet. Das Fachwerk ist die beste Bauweise, wenn man mit dem bauen möchte, was da ist.

Eine Kulturleistung
Durch die Anwendung vergangener Methoden, die aufgrund realistischer Erfahrungen von Verfügbarkeit und Anwendbarkeit entstanden, entsteht eine Konstruktionsweise, die sich wieder zurückbesinnt auf das, was machbar ist. Dabei liefert die Neuauflage der Herangehensweise Ihre Anwender (Planer) und Ihre Nutzer nicht radikal der Ideologie aus. Vielmehr sind alle gefordert aus den neuen Umständen und den neuen Verfügbarkeiten hochwertige, nachhaltige und wirtschaftliche Architektur und Umgebung zu gestalten. Eine im Wortsinne kulturelle Leistung.

Effizienz, Suffizienz und Konsistenz
sind Ideale, die der Nachhaltigkeitslehre entstammen, aber unmittelbar auf Architekturmethodik als Kriterium angewandt werden können. Sie beschreiben den effizienten Einsatz von Raum und Material, die optimale Ausnutzung der zu Verfügung stehenden Fläche, des Grundstücks oder der Landschaft. Sie erzeugen Wertschätzung für fachlich ausreichende (suffiziente) Bauelemente und für die damit einhergehende Ästhetik. Ihre konsistente Anwendung impliziert den wiederholbaren Einsatz des Materials ohne Ressourcen unwiederbringlich zu verbrauchen.

Lebensdauer und Flexibilität
Unmittelbare Auswirkung auf das Erreichen dieser Ideale hat die Lebensdauer des geschaffenen Werkes. Besser noch als Rückbau und Wiederverwendung ist Umnutzung oder umgestaltete Weiternutzung. Auch im Wohnungsbau ist hier ein flexibler Skelettbau anderen herkömmlichen Massivbauweisen überlegen. Eine stetige Veränderung der Ausbaueinheiten ist Teil der DNA dieser Konstruktion. Durch flexible Anwendung verschiedener „Ausfachungen“ des Holzskelettbaus entstehen unterschiedlichste Raum- und Nutzungssituationen, die sich leicht wieder rück- oder umbauen lassen ohne die Struktur des Gebäudes zu verändern. Zwei Aspekte sind von enormer Bedeutung für Nutzung, Raum und Atmosphäre:

1. Setzung und Raster
Ein gut gesetztes Skelett basiert auf einem Raster, das möglichst viele verschiedene Nutzungen antizipiert. Das Skelett wird ein struktureller Möglichkeitsraum, der sowohl Wohnungen als auch Büro- und Gewerbeflächen zulässt. Nebeneinander entstehen einfache Familien- und Singlewohnungen mit 1-5 Zimmern, Clusterwohnungen, Betreutes Wohnen, Loftwohnung, Townhouse oder Büro-oder Gewerbefläche.

2. Oberfläche und Eigenschaft
Funktionale Organisation und räumliche Komposition gehen einher mit den Möglichkeiten, der einbaubaren Bauteile sowie ihrer Oberflächen und ihrer physikalischen Eigenschaften. Eine große Varianz an einbaubaren, vorzugsweise wiederverwendeten, Materialien garantiert die maximale räumliche und atmosphärische Flexibilität und damit maximale Dauerhaftigkeit des Gebäudes.

Das Wilhelmsburger Fachwerk liefert den Möglichkeitsraum und die Möglichkeiten.

Der Möglichkeitsraum
Ein zeitgemäßes Fachwerk muss Funktionen erfüllen, die über die tragende, strukturbildende Funktion des historischen Fachwerks weit hinausgehen. Anforderungen an Tragwerk und Brandschutz müssen genauso erfüllt werden, wie ökologische Nachhaltigkeit, Flexibilität und Dauerhaftigkeit sowie Rückbaubarkeit der Konstruktion. Ein Holzskelettbau aus Stützen -und Unterzügen sowie Deckenelementen mit einer allgemeinen bauaufsichtlichen Zulassung als raumabschließendes Bauteil mit Brandschutzqualität erfüllt diese Eigenschaften. Die Errichtung des Holzskeletts bildet sowohl konstruktiv als auch bauordnungsrechtlich eine saubere Grundlage für den weiteren Ausbau. Die einfache Rückbaubarkeit sichert eine vollständige Wiederverwendbarkeit der genutzten Bauelemente. Neben der tragenden und horizontal raumabschließenden Struktur ist eine effiziente Erschließung notwendig. Aufgrund der hohen Anforderungen an bauliche Rettungswege und der notwendigen Aussteifung des Holzskeletts werden Sicherheitstreppenräume oder Schachteltreppenräume in Stahlbeton hergestellt. Abhängig vom Stand der Technik wird das größte Maß an rezyklierten Zuschlägen verwendet. Die Co2-Belastung bei der Herstellung wird auf ein Mindestmaß beschränkt. Um die Langlebigkeit und einfache Umnutzbarkeit abzusichern, werden ausschließlich Treppenräume ohne zusätzlichen Gebäudetechnik angewendet.

Die Möglichkeiten
Ist das Fachwerk errichtet sind die Möglichkeiten so groß wie das Angebot an auffindbaren Materialien. Da die wesentliche Struktur des Gebäudes bereits errichtet ist folgt die Form nicht mehr der Funktion, sondern der Verfügbarkeit.

Fassade und Außenwände
Für die Fassade, den räumlichen, mechanischen und bauphysikalischen Abschluss des Gebäudes sind unterschiedlichste Materialien denkbar: RE-USE Backstein, Riemchen oder Dachziegel, RE-USE Metall, Thermoholz, Gitterroste oder Baustahl werden auf eine mit Mineralwolle (ggf. wiederverwendete) oder Strohballen (In Hamburg bis Gebäudeklasse 4) gedämmte Holzrahmenkonstruktion montiert. Diese regiert individuell auf die Größe der gefundenen Fenster und ermöglicht so den Einbau einer Vielzahl verschiedener Formate. Ergänzt wird die Konstruktion durch wiederverwendete Brüstungselemente oder Metallbauteile.

Layering im RE-USE-STYLE
Durch die Überlagerung verschiedener Fenstergrößen mit Fassaden kleinerer Module (z.B. Backstein, Dachziegel) in offen geschichteter Ausführung können einerseits Fenster verschiedener Breiten und Höhen verbaut und andererseits einer homogenes Fassadenbild erzeugt werden.

Innenwände
Für unterschiedliche Anforderungen an Innenwände sieht das Wilhelmsburger Fachwerk verschiedene Wandtypen vor. Die Aufwändigsten Wände, sind Wände nach Bauart einer Brandwand und Wohnungstrennwände. Sie werden auf die Brettsperrholzdecke gestellt und können aus Recycling GW-Wand mit Glaswolledämmung oder aus ReUse Ziegel mit einseitiger Recycling GK-Verkleidung. Mit geringerer Anforderung können Zimmertrennwände realisiert werden. Der Nutzer selbst entscheidet, welche Qualität die Wände haben sollen. Denkbare Bauweise wären: Reise Ziegel, trocken verlegte Ziegel aus Bauschutt, trocken verlegte Ziegel aus recycling Plastik oder sogar eine Bücherwand aus gestapelten Büchern.. Zimmertrennwände stehen auch auf der Oberkante der Brettsperrholzdecke. Möbel- und Systemwände dienen der Aufnahme von Gebäudetechnik innerhalb von Nutzungseinheiten. Eine Schrankwand aus recyceltem Plastik, ein Fachwerk aus wiederverwendeten Möbelstücken, eine aus- und wieder eingebaute Küchenzeile oder eine Badzeile mit Fliesen aus Bauschutt. Jederzeit kann man auf dem Fertigfußboden Raumtrenner aus alten Glastrennwänden, Glasbausteinen, gedrehten Rasensteinen oder allem, was man findet realisieren. Für Wohnungstrennwände und die meisten Zimmertrennwände macht eine Fuge zwischen den Heizkreisen, abgedeckt durch eine Massivholzdiele, den Einbau der Wände auf der Oberkante der Rohdecke möglich. Der gesamte Bodenaufbau kann trocken und entlang der Fugen veränderbar hergestellt werden. Heizkreise können über Funk zusammengeschaltet werden.

Fundstücke
Die abgeschlossenen Bauwerke werden durch Fundstücke ergänzt. Unter Fundstücken verstehen wir Objekte, die an anderer Stelle demontiert und eingekauft wurden. Sie stehen oder hängen außerhalb der Gebäude, um möglichst geringe Anforderungen an diese Bauteile zu generieren. Aus alten Gewerbehallen werden Pergolen und Überdachungen für z.B. Brückenbauwerke. Ihre demontierten und neu zusammengesetzten Stahlelemente können aber auch in Zukunft als Balkone oder Rankgerüste in das Ensemble integriert werden. Alte Stb.-Fertigteilkonstruktionen dienen wiederaufgebaut als Tragwerk für Laubengänge oder vorgestellte Balkonkonstruktionen. Die Nutzung der Fundstücke moderiert das Zusammenspiel von privat, halbprivat und öffentlich. Auf Ihnen findet das gemeinschaftliche Leben im Wilhelmsburger Fachwerk statt.

Aufgrund all dieser und noch vieler anderer Möglichkeiten entstehen aus einer Methodik und einer Struktur vielfältige Gebäude und Räume mit den unterschiedlichsten Atmosphären und Anmutungen. Ihnen allen gemein ist jedoch, dass gebaut wurde mit dem, was da war.




Beurteilung durch das Preisgericht

Die Arbeit von Jan Wiese Architekten wurde in der abschließenden Gesamtbetrachtung, bezogen auf die grundsätzliche Aufgabenstellung des zirkulären Bauens, durch die Jury als nicht schlüssig beurteilt. Dabei sind die Kritikpunkte auch städtebaulicher Natur (Ausgestaltung des Innenhofes, Parken im Innenhof), beziehen sich vor allem aber auf die konstruktive Herangehensweise. Die erarbeitete Skelettkonstruktion mit den aufgezeigten Stützweiten führt zu überdimensional großen Querschnitten, teilweise zu ungünstigen Stützenstellungen und mithin zu einem sehr großen Konstruktionsflächenbedarf. Zudem wird bei den Wohnungstrennwänden der Schallschutz als kritisch betrachtet. Die Massen der Re-Used Materialien wurden nicht ausreichend dargestellt und die hier benötigten Materialien stehen regional nicht ausreichend zur Verfügung. Gleiches gilt auch für die gewählte Holzkonstruktion. In den vergleichenden Betrachtungen der jeweilig eingesetzten Baustoffmengen, der Treibhauspotentiale (GWP) sowie der Anzahl der Fahrradstellplätze und Kfz-Stellplätze schneiden Jan Wiese Architekten wesentlich schlechter als beide Mitbewerber ab.

Themenschwerpunkt "Circular Economy"
Bei dem Entwurf von Jan Wiese Architekten wird die große Bemühung zum Einsatz von Re-Use-Materialien hervorgehoben, allerdings bleibt offen, woher die wiederverwendeten Bauteile kommen sollen. Mit dem Vorschlag eines konsequenten Holzbaus kann die Arbeit hinsichtlich des hohen Einsatzes erneuerbarer, im natürlichen Kreislauf zu führender Materialien punkten, die Materialeffizienz wird jedoch vermisst. Insofern wird auch der im Vergleich höchste konstruktionsbedingte Klimafußabruck wahrgenommen. Insgesamt bleibt der Entwurf hinsichtlich der Aspekte des kreislaufgerechten Bauens etwas hinter den Beiträgen von Behnisch Architekten und Sauerbruch Hutton zurück.
Visualisierung

Visualisierung

Visualisierung Innenraum

Visualisierung Innenraum

Visualisierung

Visualisierung

Wilhelmsburger Fachwerk - Konstruktionskonzept

Wilhelmsburger Fachwerk - Konstruktionskonzept

Axonometrie

Axonometrie

Erdgeschoss Grundriss

Erdgeschoss Grundriss

Regelgeschoss Grundriss

Regelgeschoss Grundriss

Schnitt Innenhof

Schnitt Innenhof

Lageplan

Lageplan

2. Rang 3 / 3