Interdisziplinärer, nicht offener, einphasiger Ideen-Wettbewerb | 03/2023
Integration Schallschutz in den Stadtraum von Düsseldorf - Infrastrukturausbau Rhein-Ruhr-Express
©Station C23
Perspektive ,,Freie Strecke" Schlosspark Eller
Preisgruppe
Preisgeld: 60.000 EUR
Kunst
Kunst
Station C23 - Büro für Architektur, Landschaftsarchitektur und Städtebau
Landschaftsarchitektur, Stadtplanung / Städtebau
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Verfasser:
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Mitarbeitende:
Beatrice Puschkarski, Susanne Heimrich, Benjamin Hähnel, Sebastian Pietzsch
Erläuterungstext
KON TAKT ZONE
Konzept
25 Kilometer KON TAKT ZONE durch die Standlandschaft Düsseldorf bedeuten eine extreme Vielfalt unterschiedlicher räumlicher Situationen, Stimmungen, menschlicher Aktivitäten, ökologischer Vielfalt, Geräusche, Lichtverhältnisse, Luftbewegungen, Ausblicke aus der Bahn in die Stadt, und umgekehrt auf die Bahnanlagen und fahrenden Züge. Eine den Stadtraum trennende Infrastruktur wird zur KON TAKT ZONE – sie wird als durchgängiger grüner Korridor entwickelt, ein Ort der Interaktion für Menschen, Pflanzen und tierische Stadtbewohnende, sie soll ökologische Vielfalt ermöglichen, und darüber hinaus als Labor für die Menschen in der Stadt dienen, dieses Großprojekt kollaborativ zu gestalten.
Räumlich wird die Bahnstrecke überall von urbanen Landschaften unterschiedlicher Dichte begleitet - von der „Hochbahn“ zwischen dichten Häuserblocks, bis zur „freien Strecke“ inmitten von Gärten, Wiesen und Parklandschaften. Extrem unterschiedliche Lichtsituationen kennzeichnen den Korridor, und werden durch die neuen Lärmschutzwände noch verstärkt. Die KON TAKT ZONE reagiert multidimensional auf die verschiedenen Situationen mit den Komponenten Licht, Vegetation, und Begegnung. Die KON TAKT ZONE wird so zu einem lebendigen, sich dynamisch entwickelnden und verändernden Raum.
Licht
Eine rhythmische Beleuchtung in den Zyklen des Fahrtwindes ist das Leitmotiv unseres Entwurfs. Durch wind-harvesting an der Strecke wird der Fahrtwind der vorbeifahrenden Züge aufgenommen und visualisiert. Animierte, pulsierende Lichtstreifen und Klanginstallationen begleiten die Stadträume entlang der Strecke. Lineare Leuchtelemente werden vor den Lärmschutzwänden errichtet und leuchten im Rhythmus des Fahrtwindes, welcher durch kleine Mikrophone aufgenommen wird. Lichtintensität und Ausrichtung nehmen Bezug zum umgebenden Stadtraum und reagieren auf unterschiedliche Lichtverhältnisse. Für verschattete Orte, sowie unter Brücken oder in Tunneln, schlagen wir eine weitere, animierte Form der Beleuchtung vor, welche ebenfalls die Energie des Fahrtwindes aufnimmt, aber diesen im Stadtraum als Lichtquelle für Menschen und Pflanzen animiert weiterleben lassen. Dafür schlagen wir kompakte, kleinteilige Lichtinstallationen vor, welche nach dem Prinzip von Zellularautomaten funktionieren.
Vegetation
So können die Lampen die Energie des Fahrtwindes gewinnbringend für Menschen und Pflanzen in den Stadtraum tragen. Die Leuchtelemente und Installationen sollen nicht nur den Stadtraum für die Menschen beleuchten, sondern gleichzeitig auch auf den Lärmschutzwänden, begleitenden Stützmauern, und den Leuchten selbst kryptogamen Bewuchs ermöglichen und fördern - Algen, Flechten, Moose. Diese binden riesige Mengen Kohlendioxid und Stickstoff aus der Atmosphäre und beeinflussen so auch positiv das Stadtklima. Die Stickstoffmenge, die von den kryptogamen Schichten fixiert und somit dem Boden und anderen Lebewesen zugeführt wird, entspricht der Hälfte des an Land natürlich fixierten Stickstoffs, was für die Entwicklung von Ökosystemen von besonders großer Bedeutung ist, da Stickstoff oft die limitierende Nährstoffkomponente darstellt. Sie sind also auf geringster Fläche im Stadtraum extrem wirksam. „Die Wiederbesiedlung der Stadtzentren durch die Flechten wird in erster Linie als eine Folge der Rauchgas Entschwefelung betrachtet. So stieg die Zahl der Flechtenarten auf der Rinde von Stadtbäumen im Ruhrgebiet rasch von verbliebenen 4 auf 60 Arten an, ähnlich in Düsseldorf von nur 4 auf 76 Arten mit weiterhin steigender Tendenz.“ (aus Stapper, Norbert, in: Jahrbuch des Bochumer Botanischen Vereins für das Jahr 2021 - Band 13, Phaeophyscia obicularis- Stadtpflanze des Jahres 2021)
Begegnung
Die Schallschutzwände können mit flechten-freundlichem Untergrund behandelt werden. Dieser kann auch in Form von Graffiti auf die Wände aufgebracht werden - das Ergebnis wäre eine Art nachhaltiges, klimaverbesserndes Graffiti. So könnten Algen, Moose, Flechten als Wegbereiter und Träger urbaner Kultur und der Entwicklung einer partizipativen Stadtgestaltung hilfreich sein. Wir schlagen die Einrichtung eines Experimental-Stadtlabors zur Förderung kryptogamen Bewuchses vor, so kann den vielfältigen Problemstellungen des umfangreichen Eingriffs in den Stadtraum durch das Lärmschutzbauwerk kollaborativ begegnet werden. Vorstellbar sind workshops für nachhaltiges Graffiti, Künstler*innen-Stipendien für urbane Malerei, oder die Entwicklung, Produktion und Abgabe flechten-freundlicher Graffitifarben.
Vertiefungsbereiche
Ergänzend zu den Installationen unmittelbar an der Lärmschutzwand und den Stützwänden wird auch der begleitende Stadtraum behutsam verändert und aufgewertet.
Die Straßenräume entlang der Hochbahn im Vertiefungsbereich Gustav-Poensgen-Straße sollen soweit wie möglich entsiegelt werden, um Raum für eine maximal artenreiche, standortangepasste stadtklimaverträgliche- und verbessernde Vegetation, und die Sammlung und Retention von Oberflächenwasser zu ermöglichen. In den Übergangsbereichen zwischen urbanem Stadtraum, kleinteiliger Retentionslandschaften, Staudenbändern und Baumreihen entlang der Bahn werden Aufenthaltsmöglichkeiten für die Menschen integriert, sowie Infrastrukturen wie Stellplätze für Rad und Auto nebst dazugehörigen Lademöglichkeiten integriert. Die Leuchten mit den Installationen sind in die Freiräume integriert. Zusammen mit den Lichtinstallationen, Klangbildern, kryptogamem Bewuchs und artenreicher Bepflanzung bilden die neuen Freiräume die KON TAKT ZONE, welche völlig neue Erlebnisse und Interaktionsmöglichkeiten für die menschlichen und tierischen Stadtbewohnenden inmitten einer neuen Pflanzenwelt zulässt.
Im Vertiefungsbereich S-Bahnhof Volksgarten schlagen wir vor, die Wegebeziehungen in den Park hinein zu ordnen und großzügig aufzuweiten, sowie den Vorplatz des Haltepunkts behutsam aufzuwerten. Im Volksgarten verbindet die KON TAKT ZONE das Infrastrukturbauwerk mit dem Park. Die linearen Lichtinstallationen können in den Raum des Parks wirken, und die neue artenreiche Bepflanzung ergänzt den kryptogamen Bewuchs an den Lärmschutzwänden.
Der Vertiefungsbereich im Bereich der freien Strecke ist geprägt von vorstädtischer lockerer Bebauung und der Umgebung des Schloss Eller und seinem Landschaftspark.
Die KON TAKT ZONE ist hier wesentlich extensiver ausgestaltet als in den innerstädtischen Abschnitten, enthält jedoch die selben Elemente. Diese werden lediglich an ausgewählten Stellen eingesetzt, beispielsweise an Querungen der Strecke, Richtungswechseln der Wege, Brücken über kleine Gewässer und anderen markanten landschaftlichen Orten. Die begleitende Vegetation ist hier deutlich extensiver ausgeprägt und von landschaftlichem Charakter.
Beleuchtungskonzept
Die technische Umsetzung der KON TAKT ZONE ist unabhängig von der Errichtung der Lärmschutzwände und der Trassenerweiterungen möglich. Die Anlagen für das wind-harvesting sollen innerhalb der Bahntrasse liegen, diverse kleinteilige technische Lösungen sind hier möglich; ein entsprechender Hersteller wurden für den Wettbewerb konsultiert. Die Lichtinstallationen können direkt durch den Energieertrag aus dem Fahrtwind betrieben werden, einfache Steuerungen sowie die Ausgabe für die Klanginstallationen sind in die Leuchten integriert. Die Leuchtenbänder wurden ebenfalls für den Wettbewerb mit einem Hersteller abgestimmt, sind als einfache, aber robuste Stahlkonstruktion modular aufgebaut und je nach Standort verschieden ausgestattet. Die Lichtinstallation mit den Zellularautomaten kann in die Stadtmöblierung integriert werden.
Die Soundinstallation: Ein räumliches Ensemble aus humanuiden gender-fluiden Torsi bildet einen Chor, der zu einem neuronalen Netzwerk zusammengeschaltet ist und einen anhaltenden und nachhallenden Chorsatz in den Wind und die Geräusche der vorbeifahrenden Züge singt. Die sensorischen Daten werden aus den Luftbewegungen gewonnen und die Energie für das nachhaltig autonome System wird aus der elektromagnetischen Strahlung gewonnen.
Bepflanzung
Für die Bepflanzung werden an die jeweiligen Standorte angepasste Arten ausgewählt. Die Artenauswahl spiegelt die vielfältigen Standortbedingungen entlang der Strecke wider - von extrem trocken und heiß, zu wechselfeucht bis zum Übergang in landwirtschaftlich und gärtnerisch genutzte Bereiche. Ziel ist eine jeweils maximale Artenvielfalt, welche in gewissem Maße eine Eigendynamik in ihrer Entwicklung zulässt. Hierzu sollen Mischungen aus Wildstauden, Gräsern und Kleingehölzen etabliert werden. Diese sind in der Pflege überwiegend extensiv und bieten gleichzeitig vielfältige Lebensräume für Insekten, Vögel und Kleinsäuger. In den Retentionsflächen wird ebenfalls standorttypische Vegetation, geeignet für wechselfeuchte Standorte, etabliert. Im Bereich der freien Strecke wird die Vegetation ergänzt durch einen größeren Anteil an Gehölzen und Sträuchern.
Materialauswahl
Bodenbeläge und Einfassungen orientieren sich am Bestand, sollen vor allem jedoch nach Gesichtspunkten der Nachhaltigkeit und Langlebigkeit ausgewählt werden, da auch die Umsetzung des Lärmschutzbauwerks über einen Zeitraum von vielen Jahren erfolgen wird. Nur wenige, zeitlose natürliche Materialien wie Naturstein sollen daher für die Einfassungen und Beläge ausgewählt werden. Einbauten sind als robuste Stahlkonstruktionen ausgeführt.
Die Materialauswahl ist auch hinsichtlich Pflege und Unterhalt zu optimieren. So werden langfristig weniger Reparaturen erforderlich, diese sind jedoch mit Naturmaterialien auch einfacher möglich. Die Pflege der teilweise in Eigendynamik sich entwickelnden Pflanzungen ist so extensiv wie möglich anzusetzen. Hierbei sind auch die jeweiligen, kleinteiligen Standortbedingungen entlang der KON TAKT ZONE maßgeblich, nach denen sich die optimale Auswahl der Pflanzen ergibt.
Resümee
Die gesamte Realisierung und Etablierung der KON TAKT ZONE kann über einen langen Zeitraum und im gesamten Projektgebiet in gleichbleibender Qualität erfolgen. In Verbindung mit dem Stadtlabor kann der gesamte Prozess kollaborativ weiter entwickelt und vertieft werden. 25 km Lärmschutzwand verstehen wir also als Einladung und Chance für einen nachhaltigen und vielfältigen Prozess der Stadtentwicklung.
Beurteilung durch das Preisgericht
Die Arbeit besticht durch ihre vielschichtige und subtile Art, zur Schaffung eines ganzheitlichen Konzepts, die unterschiedlichen technischen, urbanistischen und landschaftsplanerischen und künstlerischen Disziplinen zu einem sehr guten Lösungsansatz zu verweben. Den Lärmschutz durch ein herkömmliches System zu gewährleisten und Flächen und Räume des unmittelbaren städtischen Kontexts differenziert, behutsam und mit einem hohen nachhaltigen Anspruch aufzuwerten überzeugt sehr. Die Transformation kinetischer Energie (Windsog und -druck fahrender Züge) soll visuell und optisch wahrgenommen werden können. Dieser Ansatz wurde vor dem Hintergrund gängiger Begrifflichkeiten wie „Lichtverschmutzung“ und „Töne/Klänge versus Lärmschutz“ kontrovers diskutiert, versteht sich aber als interaktive und örtlich begrenzte, angemessene und kleinteilige Installation. Zum Verständnis hilfreich sind - zusätzlich zu den Plandarstellungen - hierbei die bewegten Bilder des Films, welcher mit seinem großen Interpretationsspielraum Teil dieser Arbeit ist.
Die Jury regt an, letzteren in Zusammenhang der integrierten linearen Leuchten und den Klanggeneratoren und der scheinbar additiven Zellularautomaten im Dialog mit den Auslobenden weiter zu konkretisieren. Die Auswirkung einer Vereinbarkeit mit Fauna (z.B. Fledermäuse und Licht), unmittelbaren Nachbarschaften (Anwohnenden) und Beständigkeit insbesondere in Hinblick auf Vandalismus sind zu prüfen. Besonders gelobt wurde an dieser Arbeit der Vorschlag, zur Anwendung angepasster Arten der Bepflanzung an den unterschiedlichen Standorten. Dieser sieht in Teilen auch den subtilen Ansatz der Begrünung durch feinste Schichten von Flechten, Moosen und Algen vor. Dieser ökologisch erwiesenermaßen gewinnbringende Ansatz stellt einen Bewuchs mit geringer biomorpher Masse dar, dessen Anwendung/Umsetzung gegebenenfalls mit geltenden Zulassungen und technischen Richtlinien zu vereinbaren, oder kurzfristig zu erwirken sein könnte. Kritisch angemerkt wurde mit Hinweis auf das Wachstum der Flechten die Grunderfordernis von „reiner, sauberer Luft“. Die Verfassenden weisen jedoch (s. Erläuterungsbericht) auf aktuelle Erhebungen im Ruhrgebiet hin, welche die Entwicklung einer weiteren „Besiedlung“ positiv bewerten.
Der Vorschlag eines kollaborativen, experimentellen, künstlerischen oder subversiven Prozesses zur Förderung des kryptogamen Bewuchses wird von der Jury sehr begrüßt. Ein partizipativer Ansatz, wie z.B. über den Vorschlag eines Stadtlabors ist nach Ansicht der Jury unter Umständen mit Risiken oder zusätzlichem Aufwand verbunden, könnte aber auch langfristig eine Transformation, eine Belebung durch Veränderung und damit auch eine Identifikation für die Anwohnenden bedeuten. Insgesamt überzeugt die Arbeit aufgrund ihrer Ausdifferenziertheit durch zahlreiche funktionale, räumlich- atmosphärische und ästhetische Qualitäten und bietet in Teilen sehr gute Ansätze als Antwort des interdisziplinären Teams auf einzelne unterschiedliche stadträumliche Bereiche der Aufgabenstellung. Der Entwurf sieht den Einsatz einer herkömmlichen Schallschutzwand vor. Diese soll anliegerseitig durch vorgesetzte Ton- und Lichtinstallationen ergänzt werden. Die Umsetzbarkeit ist denkbar, Details wie z.B. zur Stromerzeugung und den Licht- und Lärmimmissionen wären zu klären. Eine direkte Begrünung der Schallschutzwand mittels Flechten und Moosen scheint zumindest fraglich. Bezüglich der Akustik ist der Vorschlag zu begrüßen, da er auf zugelassene Schallschutzwandsysteme aufsetzt.
Fazit: Der Entwurf KON TAKT ZONE überrascht durch seinen Zugang zum Thema. Besonders fällt die künstlerisch stringente Auseinandersetzung mit den Schallschutzwänden als Ort für experimentelle Versuchsreihen zu kryptogamen Bewuchs in Verbindung mit Licht- und Klanginstallationen auf. Die Kombination von Fragen der Biodiversität mit innovativen Methoden des Wind-Harvesting erscheint feinsinnig und zeigt sich zudem als experimentell forschend. Beachtet werden muss, dass sowohl die Licht- als auch Klanginstallation nicht zu einer Belastung für die Anwohnenden führt und die durch die Züge entstehende Taktung als visuelle und auditive Verstärkung empfunden wird.
©Station C23
Übersichtsplan ,,Grüner Korridor"
©Station C23
Vertiefungsbereiche Stadtraum
©Station C23
Detail Schallschutzwand
©Station C23
Perspektive ,,Dammlage" Gustav-Poensgen-Straße