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Award / Auszeichnung | 06/2021

Berlin Award 2021

Lovo Lebensort Vielfalt Ostkreuz

DE-10245 Berlin, Neue Bahnhofstraße 1a

Preis Kategorie Ungewöhnliche Nachbarschaften

christoph wagner architekten

Architektur

Projektdaten

  • Gebäudetyp:

    Wohnungsbau

  • Projektgröße:

    keine Angabe

  • Status:

    Realisiert

  • Termine:

    Fertigstellung: 01/2018

Projektbeschreibung

LOVO
Lebensort Vielfalt am Ostkreuz

Team: Christoph Wagner, Wenke Schladitz, Stefan Tietke, Rainer Krautwurst, Nabih Alshaikh, Eyal Perez, Henning Hesse

Der LOVO bietet Gemeinschaftsräume und betreute Wohneinheiten für schwule, transsexuelle und intersexuelle Menschen, die ihren Alltag nicht ohne Hilfe bewältigen können. Einige der Bewohner sind vor kurzem erst als Flüchtlinge nach Berlin gekommen. Die Initiatoren des Projektes waren überzeugt, dass dieses Projekt mit seinem stark integrativen Konzept in einem zentralen und urbanen Stadtkontext angesiedelt werden sollte.

Das von Christoph Wagner Architekten mit Wenke Schladitz entworfene Gebäude wurde 2019 fertiggestellt. Das Wohnprojekt wurde 2015 von Christoph Wagner und dem Künstler Ulrich Vogl initiiert, die gemeinsam mit der GLSBank auch die Finanzierung planten. Das Konzept wurde gemeinsam mit dem heutigen Betreiber - der Schwulenberatung Berlin - entwickelt. Der in Berlin ansässige Verein setzt sich seit 1981 für die Rechte queerer Menschen ein und kümmert sich insbesondere um die Bedürfnisse von älteren Menschen, Menschen mit Behinderungen, Suchtkranken, HIV/AIDSInfizierten und neuerdings auch Flüchtlingen. Dass die Entwicklung und Planung des Hauses von Beginn an in so enger Abstimmung mit dem späteren Betreiber stattfinden konnte, hat das Projekt geprägt und zum erfolgreichen Gelingen beigetragen.

Mit seinem Programm ist der LOVO das erste Haus seiner Art und wurde bereits während der Entwicklungsphase 2016 im Rahmen des Deutschen Beitrags zur Architekturbiennale „Making Heimat. Germany Arrival Country“ vorgestellt.

GEMISCHTES PROGRAMM
31 Zimmer, 6-8 davon für Flüchtlinge, befinden sich vom 1. bis zum 4. OG des Gebäudes in vier "Etagengemeinschaften", wobei die Einheit im 1. OG als Pflegewohngemeinschaft konzipiert ist. Um die Bewohner*innen vor Ausgrenzung zu schützen und das Projekt im Kiez zu verankern, wurde auf eine programmatische Mischung Wert gelegt. Das Gebäude umfasst daher drei Wohnungen, die auf dem Wohnungsmarkt vermietet und zur Zeit vornehmlich von nichtquereren Menschen bewohnt werden und die die Finanzierung des Projekts unterstützen. Im Erdgeschoss befinden sich drei Ladeneinheiten. Darunter das Café "Transfair", eine Eingliederungsmaßnahme, die von der Schwulenberatung betrieben wird und in dem einzelne Bewohner- *innen des Hauses arbeiten. Ebenfalls im Erdgeschoss befinden sich der Gemeinschaftsraum und Büroräume der Schwulenberatung, die den Bewohner*innen werktags Unterstützung und Hilfe bei der alltäglichen Lebensführung und Organisation gemeinsamer Aktivitäten bietet. Die dritte Einheit wurde wiederum durch die Schwulenberatung über den freien Markt vermietet.

BEWOHNER*INNEN
Viele der Bewohner*innen haben ein starkes Schutzbedürfnis. Dieses Bedürfnis führt bei einigen dazu, dass sie das Haus voraussichtlich auch über längere Zeiträume kaum verlassen möchten. Daher wurde das Haus mit Garten von den Architekten zunächst als als eine schützende Hülle um einen autonomen räumlichen Org-anismus begriffen, der – trotz der beschränkten räumlichen Ressourcen – multiple Raumqualitäten bereitstellen sollte. Die Aneignung vermeintlich nicht-privater Räume (wie Durchgang, Treppe, Laubengang) wird durch die inbesondere zum Gartenraum hin offenen Gestaltung unterstützt.

ERSCHLIESSUNG UND GEMEINSCHAFTLICHE FLÄCHEN
Der Zugang zu den oberen Geschossen erfolgt über ein vorgelagertes Beton-Treppenhaus auf der Hofseite, das sich zum Garten hin öffnet und sich fast symbiotisch mit einem alten charaktervollen Kastanienbaum in die Höhe windet. Über luftige Außenpodeste erfolgt pro Etage der Zugang zu den Wohneinheiten. Das Treppenhaus führt wiederum zu einem öffentlichen Bereich im oberen Teil des Hauses, dem geräumigen Laubengang im 5. OG.

Ein Durchgang im Erdgeschoss verbindet – durch eine Glastür von der Straße geschützt – den Garten optisch mit der Straße. Er weitet sich auf und leitet ohne geschlossene Wände zum Garten über. Einige Merkmale, wie die Beleuchtung, der eingelassene Wandspiegel mit Konsole und die Schreibtafel lassen eher Assozitationen zu Wohnräumen aufkommen. Diese "Einrichtungselemente" im Aussenraum brechen schon beim Betreten des Hauses mit den Konventionen eines normalen Außenenzugangs zugunsten spontaner Begegnungen und Kommunikation.

ETAGENGEMEINSCHAFTEN / WOHNGEMEINSCHAFTEN
Jedes der Obergeschosse 1 bis 4 besteht aus je einer Wohngemeinschaft – oder besser „Etagengemeinschaft". Die 7 bis 8 Bewohner pro Stockwerk leben unter Bedingungen zusammenleben, die von herkömmlichen Wohngemeinschaften abweichen, da sich die Bewohner ihre Mitbewohner in der Regel nicht aussuchen können. Sie leben eher als Nachbarn zusammen, als in einer familienähnlichen Gemeinschaft. Das soll aber gerade nicht bedeuten, dass sie als Fremde quasi isoliert in einer heimählichen Institution leben, denn viele von ihnen sind auch deswegen ins Lovo gezogen, um Gemeinschaft zu finden. Viele haben einen ähnlichen biographischen Hintergrund oder eine ähnliche Lebensgeschichte. Die Schaffung der "Etagengemeinschaften" ist der Versuch, eine Form des "Zusammenlebens" zu entwickeln, die mehr an ein kleines Dorf unter einem gemeinsamen Dach als an eine gewöhnliche Wohnung erinnert. Die einzelnen Zimmer sollten daher autonomer und die Gemeinschaftsbereiche etwas öffentlicher als üblich gestaltet sein.

Um größere Autonomie zu erreichen, sind die 31 Zimmer jeweils mit individuellen Balkonen ausgestattet und haben sehr große Fenster zur Straße bzw. zum Garten. Kleine Eingangszonen mit einfachen Möbeleinbauten vermitteln zwischen dem Flur und den Zimmern. Innenliegende Vorhänge und zusätzliche außenliegende Senkrechtmarkisen wurden geplant, um die individuellen Bedürfnisse der Privatsphäre auf der Fassadenseite optimal zu steuern. Türen und Wände erhielten über den Wohnungsstandard hinausgehende erhöhte Schalldämmung. Die Deckenhöhe von 2,90 Metern vermittelt ein Gefühl von Geräumigkeit, obwohl die Räume selbst aufgrund der Gegebenheiten des kleinen Grundstückes mit ca.14 qm nicht groß sein können.

Jede Etagengemeinschaft wird von dem Freiluft- Treppenhaus auf der Gartenseite des Hauses über geräumige Gemeinschaftsküchen mit Balkon betreten. Die durchdachte Anordnung der Gemeinschaftsbereiche Küche und Lounge, die wechselseitig auf der Garten- bzw. der Straßenseite an den Enden des Flurs angeordnet sind sowie das Farbkonzept (rohe Betonflächen wechseln sich mit weißen und dezent pastellfarbenen Wand- und Deckenflächen ab) sorgen trotz der relativ strengen Anordnung der Räume für abwechslungsreiche Raumszenen.

200 Meter Balkone über alle Etagen und über die gesamte Länge der beiden Fassaden öffnen das Haus in den belebten Kiez um den Bahnhof Ostkreuz und zum Garten. Sie wurden in einer frühen Phase des Entwurfs als ein bedeutender und wichtiger Teil des Konzepts identifiziert. Sie verbinden jeden Raum mit den Nachbarzimmern und auch mit den gemeinschaftlichen Balkonzonen auf den Etagen, sind jedoch durch Stahlelemente separiert aber nicht physisch getrennt. Sie ermöglichen nicht nur individuelle Erholung und Rückzug, sondern bieten für jedes Zimmer einen realen – und ebenso wichtig – einen imaginären Weg ins Freie.

GESTALT Das Haus präsentiert sich offen und einladend zur umliegende Nachbarschaft. Die Fassaden öffnen sich durch großformatige Verglasungen und Brüstungen aus leichtem Stahlgewebe, die sich über die gesamte Fassadenlänge erstrecken. Ausgehend von den Grundfarben Rot und Blau wurden wärmere, einladende Rosatöne und kühlere, ruhige Blautöne in Kombination mit Grautönen verwendet, um eine farbige Anmutung zu erreichen, ohne im negativen Sinne „bunt“ zu wirken.

NACH EINEM JAHR ... Das Haus wird nun seit über einem Jahr genutzt. Das Café unterstützt den Austausch mit der Nachbarschaft, und das Gebäude ist mehr frequentiert, vitaler und extrovertierter als Wohngebäude vergleichbarer Größe. Verbrachte zum Beispiel ein Großteil der Bewohner*innen nach dem Einzug noch viel Zeit vor dem Fernseher, halten sich viele von ihnen nun lieber im Garten oder auf den Balkonen auf. Es gibt wöchentliche Zusammenkünfte für gemeinsames Kochen, Gartenarbeit und andere Aktivitäten. Auf eigene Initiative besucht regelmäßig ein Friseur den Gemeinschaftsraum und bietet den Bewohnern kostenlose Haarschnitte an. Einige der Bewohner*innen, deren äußeres Erscheinen von den Konventionen ihres biologisch körperlichen Geschlechts abweicht, berichten, dass sie es in dieser geschützten Umgebung zum ersten Mal in ihrem Leben wagten, einen Friseur aufzusuchen. Das Haus wird gut angenommen, es gab bisher kaum Fluktuation. Die Warteliste für einen Wohnplatz ist (leider) sehr lang, denn eine alternative Institution gibt es in Berlin derzeit noch nicht.