Das ehemals industriell genutzte Werksviertel am Ostbahnhof in München ist ein außergewöhnliches Beispiel für eine langfristig angelegte Transformation zu einem durchmischten Stadtteil. Die Vorgängernutzung wies keine relevanten Bezüge zur Stadt auf. Heute findet sich hier ein lebendiges, stark frequentiertes urbanes Quartier, gut eingebunden in das städtische Gefüge.
Dank eines kooperativen Planungsprozesses, in den zahlreiche Beteiligte eingebunden waren, ist es gelungen anfangs scheinbar unvereinbare Parameter schrittweise in ein Gesamtkonzept zusammenzuführen. Unterschiedliche zeitliche und inhaltliche Zielvorstellungen und komplexe Grundstücksstrukturen erschwerten eine Entwicklung des Areals. Die Umsetzung wurde möglich durch das Engagement von Steidle Architekten im kreativen und mutigen Zusammenspiel mit dem Planungsreferat der Stadt München, den Eigentümerinnen und Eigentümern sowie unterschiedlichen Projektsteuerern.
Sah ein städtebaulicher Wettbewerb aus den späten 1990er Jahren noch eine Entwicklung des Gebiets weitgehend unabhängig von bestehenden Strukturen vor, konnten über das neue Verfahren prägende Elemente des historischen Ensembles erhalten bleiben. Es sollte eine größtmögliche Mischung aller Funktionen städtischen Lebens abgebildet werden. Die aus der Zwischennutzung als „Kunstpark Ost“ gewonnenen Erfahrungen wurden aufgegriffen, um neben Wohnen, Handel und Gewerbe auch Freizeit, Kultur und Veranstaltungsnutzungen zu integrieren. Eine mehrzügige Grundschule rundet das Nutzungsangebot ab. Eine Durchwegung bindet das Areal in die umgebende Bebauung ein, attraktive Freiräume waren ein zentrales Ziel der Masterplanung. An den Rändern hat sich eine eher konventionelle Büro- und Dienstleistungsstruktur mit qualitätvollen öffentlichen Räumen entwickelt.
Das Werksviertel auf dem ehemaligen Pfanni-Gelände steht für einen bisher beispiellosen Ansatz, auf Grundlage des Bestands ein buntes Nebeneinander unterschiedlicher Nutzungen zu generieren. Die Entwicklung erfolgte über eine Reihe von Zwischennutzungen, zum großen Teil in Form von provisorischen Bauten in gestapelten Containern. Diese bilden weiterhin einen spannenden Kontrast zu den sukzessive sanierten, durch Neubau ergänzten Gebäuden. Sogar für die sehr spezifischen, technischen Bauwerke mit vorhergehender industrieller Nutzung konnte eine Nachnutzung ermöglicht werden. So birgt etwa das alte Kartoffelsilo eine Kletterhalle und ist gleichzeitig die statische Grundlage für ein Hostel und ein darüberliegendes Hotel im Hochhaus.
Architekturbüros wie Steidle Architekten, Hild+K oder auch MVRDV sichern eine hohe bauliche Qualität. Eine Kuratierung der Zwischennutzungen und der dauerhaften Vermietungen führt zu einer außergewöhnlichen Mischung aus Kultur, Handel, Gastronomie, kreativen und klassischen Büro- und Dienstleistungsnutzungen. Ein differenziertes System aus gestaffelten Mieten adressiert auch Startups und Personen, die im überhitzten Münchner Mietmarkt kaum Räume finden. Das Vorgehen ist dabei durchaus strategisch überlegt. Einzelne zahlungskräftigere Nutzerinnen und Nutzer sind aufgrund des kreativen Umfelds bereit, für den Standort hochpreisige Mieten zu zahlen und damit die gewünschte Mischung zu finanzieren. Über 1.000 Wohnungen werden die Nutzungsvielfalt im Werksviertel in Zukunft abrunden. Auch die öffentlichen Räume setzen sich intensiv mit dem Bestand auseinander. Bestehende Materialien werden ergänzt. Spuren, wie die früheren Gleisanbindungen werden Grundlage für verschiebbare Möblierungselemente, die bestehenden aufwändigen Entwässerungsanlagen werden Teil des Regenwassermanagements.
Es ist ein einzigartiges Stadtgefüge mit einer hohen Identität entstanden. Möglich ist diese besondere Entwicklung durch das Engagement des Grundstückseigentümers, der sich eher als ein „Betreiber“ des Areals versteht und dem Projekt immer wieder durch eigensinnige Detailideen eine hohe Individualität verleiht. Seien es die Schafe auf dem Dach von Werk 3, sei es die Kolonie der Blattschneideameisen, die den mühsamen Treppenaufstieg ins 4. OG spannender machen, die Platzierung zweier Almhütten im Gelände oder der selbst entworfene Paternoster, der es auch Menschen mit Behinderung ermöglicht, einen Laden zur 24h-Versorgung zu betreiben. Viele liebevolle Details machen das Werksviertel zu einem der außergewöhnlichsten Projekte der jüngeren Vergangenheit.