Am 4. und 5. Juli haben in Ulm rund 100 Bauschaffende darüber diskutiert, unter welchen Voraussetzungen solche öffentlich nutzbaren Orte geschaffen werden können. Dabei ging es um gesellschaftliche Teilhabe, die Frage nach Bodenbesitz und kommunalem Handlungsspielraum und um gute Prozesse.

Die Ergebnisse fließen in den Baukulturbericht 2020/21 „Öffentliche Räume“ ein, den die Bundesstiftung Baukultur aktuell erstellt.

Zum Auftakt der Baukulturwerkstatt in Ulm konnten die Teilnehmenden die Stadt bei zwei Führungen kennenlernen. Alexander Wetzig, ehemaliger Baubürgermeister Ulms, erläuterte die Entwicklung weg von der autogerechten Stadt mit zahlreichen innerstädtischen Parkplätzen hin zu einer Stadt mit Aufenthaltsqualität. Die Tour führte unter anderem zur Neuen Mitte: Früher zerschnitt hier eine Stadtautobahn die Altstadt.
Aufgrund der hohen Verkehrsbelastung und dem Unmut der Ulmerinnen und Ulmer kam es zu einer einem Bürgerbeteiligungsverfahren in den 1990er-Jahren. Neben der verkehrstechnischen Lösung wurde die städtebauliche Perspektive mit einbezogen: ein Architekten-Wettbewerb legte den Grundstein für die Teilbebauung der Neuen Straße.
Heute ist im Bereich der Altstadt Tempo-20-Zone mit shared space für alle Verkehrsteilnehmer inklusive Fußgänger. Trotz 17.000 Autos täglich funktioniert das Konzept laut Wetzig gut. Die moderne Architektur in Verbindung mit dem prächtigen historischen Rathaus, das an die Neue Mitte angrenzt, schaffe einen baukulturell interessanten Ort mit Aufenthaltsqualität.

Tour zwei führte mit dem Architekten und Ingenieur Bartlomiej Halaczek zur neuen Ulmer Kienlesbergbrücke, die Fußgängern, Radfahrern und dem Straßenbahnverkehr vorbehalten ist. In direkter Nachbarschaft zur historischen Neutorbrücke überquert die neue Brücke am Ulmer Hauptbahnhof mehrere Bahngleise sowie den Albabstiegstunnel der ICE-Neubaustrecke Stuttgart-Ulm. Die komplexe Tragwerkskonstruktion der Kinelesbergbrücke und die Montage bei laufendem Bahnbetrieb stellen herausragende Ingenieurleistungen dar. Mit ihrer architektonischen Ausdruckskraft hat die Brücke das Potenzial, neues Wahrzeichen der Stadt zu werden. Sie ist außerdem ein gutes Beispiel für interdisziplinäre Zusammenarbeit, wie später bei der Diskussion am Werkstatt-Tisch deutlich wurde.

Nach den Spaziergängen begrüßten Ulms Oberbürgermeister Gunter Czisch und Ministerialdirektor Michael Kleiner (Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau Baden-Württemberg) die Teilnehmenden im Stadthaus Ulm am Münsterplatz. Reiner Nagel, Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur, betonte, dass Ulm für das Thema „Demokratie und Prozesskultur für öffentliche Räume“ die richtige Stadt sei: „In den letzten Jahren sind in Ulm zahlreiche Projekte der Stadtentwicklung termingetreu, mit guten Prozessen und in hoher Qualität entstanden.“
Sabine Djahanschah, Nachhaltigkeitsexpertin im Bereich Architektur und Städtebau der DBU ordnete die Umsetzung in Ulm anlässlich der Veranstaltung in einen übergeordneten Rahmen ein: "Intelligente Innenentwicklung nutzt effizienter bestehende Infrastrukturen und damit Ressourcen, kann einen positiven Beitrag zur Belebung der Ortskerne leisten und schont Flächenreserven für zukünftige Generationen - daher sollte sie die zukunftsfähige erste Wahl für kommunale Entscheider und Investoren darstellen." Wie aktuelle Maßnahmen und Strategien der Stadtentwicklung in Ulm aussehen, erläuterte Tim von Winning, Bürgermeister für Stadtentwicklung, Bau und Umwelt unter dem Titel „Platz da! Vom Verkehrsraum zum Lebensraum“. Heute beanspruchten insbesondere Verkehrsbedürfnisse immer mehr Fläche, stellte von Winning fest. Diese Entwicklung sei gesellschaftlich mehrheitlich akzeptiert – nur langsam setze sich die Erkenntnis durch, dass hiermit Lebensqualität in den Städten verlorengegangen sei.
Initiativen, die sich für mehr Lebensqualität einsetzen, stellte Veronika Kienzle von der Stabsstelle für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung Baden-Württemberg vor. Sie erläuterte anhand verschiedener Beispiele wie dem Stadtlücken e.V., wie engagierte Bürgerinnen und Bürger in Stuttgart innerstädtische Unorte beleben. Die Rückeroberung der öffentlichen Räume sei politischer Ausdruck der Stadtgesellschaft und damit essentiell für eine Demokratie. Stephan Reiß-Schmidt sprach über den Wert des Bodens für Stadtentwicklung und Baukultur. Reiß-Schmidt gehört dem Ausschuss der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung (DASL) an. Er machte deutlich, dass eine gemeinwohlorientierte Bodenpolitik der Dreh- und Angelpunkt einer sozial gerechten Stadtentwicklung ist. Boden sei schließlich unvermehrbar und „wie Luft und Wasser ein lebensnotweniges Gemeingut, das allen gehört“. Es werde zunehmend das adäquate Gleichgewicht zwischen dem privaten Nutzen des Bodeneigentums und dem Wohl der Allgemeinheit vermisst.


Der zweite Tag der Baukulturwerkstatt fand in der Hochschule für Gestaltung HfG Ulm statt. Für das Thema Demokratie und Baukultur gebe es keinen besseren Ort in Ulm als die HfG, betonte der Stiftungsratsvorsitzende Alexander Wetzig bei seiner Begrüßung. Die Entwicklung eines demokratischen Bewusstseins in Verbindung mit der Gestaltung der Umwelt habe auf der Agenda der Hochschule, die 1953 ihre Arbeit aufnahm, an erster Stelle gestanden. Die Keynote übernahm Prof. Dr. Gunter Henn, der mit seinem international tätigen Architekturbüro insbesondere auf Forschungs-, Produktions- und Verwaltungsgebäude spezialisiert ist. Er erläuterte die Generalplanung des Merck Innovation Center in Darmstadt unter besonderer Berücksichtigung der neu entstandenen, öffentlich nutzbaren Flächen. Weitere Impulse setzten Referentinnen und Referenten an den drei Werkstattischen, die als Arbeitsformat allen Teilnehmenden offenstanden. Zum Thema „Boden“ erläuterte Ulrich Soldner (Liegenschaften und Wirtschaftsförderung Ulm) die vorbildliche Bodenbevorratungspolitik der Stadt Ulm: Um handlungsfähig zu sein, gehöre der Stadt
Ulm ein Drittel der Flächen im Stadtgebiet. Zudem verhindere man Bodenspekulation – etwa durch eine zehnjährige Selbstnutzungspflicht bei neuen Einfamilienhäusern und einer Frist zur Baufertigstellung von wenigen Jahren.

Am Werkstatt-Tisch „Demokratie“ diskutierte Christoph Schmidt von Grün Berlin mit Veronika Kienzle und den Teilnehmenden über Teilhabe und Nutzung öffentlicher Flächen. Zum Thema „Prozesse“ sprachen Prof. Dr. Jan Akkermann (Krebs+Kiefer Ingenieure) und Bartlomiej Halaczek (Knight Architects) über die interdisziplinäre Zusammenarbeit bei Planung und Bau der Kienlesbergbrücke in Ulm. Wolfgang Betz (WES LandschaftsArchitektur) stellte die Neugestaltung des Erfurter Bahnhofsvorplatzes (Willy-Brandt-Platz) mit Zentralem Busbahnhof vor.


Aus den Diskussionen an den Werkstattischen kristallisierten sich folgende Voraussetzungen für gute Prozesse und Teilhabe an öffentlichen Räumen heraus:


1. Der öffentliche Raum bedarf eines besonderen Schutzes, da er Allgemeingut ist: Kommunen dürfen öffentliche Räume als Grundgerüst der Stadt nicht aus der Hand geben, noch mit Boden spekulieren. Im Sinne einer positiven Stadtrendite ist eine aktive, gemeinwohlorientierte Bodenpolitik für öffentliche Räume nötig.
2. Die Stärkung des Allgemeinwohls sollte bei öffentlichen Räumen immer über der Bedeutung von Partikularinteressen stehen.
3. Zunehmend werden die weichen Faktoren wie soziale und demokratische Werte als wesentlich für öffentliche Räume erkannt. Daher ist eine Leistungsbewertung des öffentlichen Raums wünschenswert, bei der es nicht nur um ökonomische Wertschöpfung geht.
4. Gegenseitiges Vertrauen ist unabdingbar für gelingende Prozesse der bürgerschaftlichen Beteiligung in öffentliche Vorhaben. Dabei spielen realitätsnahe Planungen und Darstellungen sowie transparente Entscheidungsprozesse durch Kommunikation eine große Rolle.
5. Es braucht eine aktive Verwaltung, die die Schnittstelle zwischen zivilgesellschaftlichem Engagement und politischem Gestaltungswillen bildet. Beteiligungsprozesse und verfahren sind wünschenswert und sollten professionell moderiert werden. Alle Anwohner sollten sich angesprochen fühlen.
6. Öffentliche Räume brauchen sektoral übergreifendes Management. Vorgeschlagen wird eine neue Profession des „Managers für öffentliche Räume“.
7. Anhand von temporären Formaten können Experimente gewagt werden. Bewähren sich diese, ist eine Verstetigung anzustreben. Öffentliche Räume sind perfekte Reallabore zur stetigen Überprüfung des Zustands einer Gesellschaft.