„Traue ich mich das oder gehe ich lieber auf Nummer sicher?“ Als Entwerfer*in steht man im Wettbewerb des Öfteren vor dieser Frage. Laut einer competitionline-Umfrage unter den 80 in Wettbewerben erfolgreichsten Büros des competitionline Rankings 2018 setzen sich 86 Prozent der Befragten häufiger oder im Einzelfall über die Anforderungen der Auslobung hinweg, wenn es gestalterisch sinnvoll erscheint. Bei 17 Prozent hat sich der Mut gar in Wettbewerbserfolgen ausgezahlt.

So auch für Studio Wessendorf und Atelier Loidl beim städtebaulichen Wettbewerb Stadtquartier Eggarten. Zwar gab es in der Auslobung keine rechtlich bindenden gestalterischen Vorgaben gemäß der RPW, doch wünschte sich die Bauherrin ausdrücklich einen zentralen Park als Herzstück des neuen Quartiers. Warum sich die Berliner Stadtplaner*innen und Landschaftsarchitekt*innen dennoch dagegen entschieden haben und eine andere Lösung vorschlagen, verrät Jörg Wessendorf im competitionline-Interview. 

Herr Wessendorf, was haben Sie sich bei diesem Entwurf eigentlich gedacht?

Die heutige Eggartensiedlung geht auf die Planung der Kolonie Eggarten von 1920 zurück, deren Realisierung aber nach der Errichtung einzelner Gebäude gestoppt wurde. Stattdessen wollte der Grundstückseigentümer, die Deutsche Bundesbahn, dort über Jahrzehnte einen Rangierbahnhof errichten. Bis heute hat sich ein prächtiger Baumbestand entwickelt, der dem Ort eine ganz besondere, landschaftliche Atmosphäre verleiht.

Der Entwurfsansatz beinhaltet nicht nur, möglichst viele dieser Bäume zu erhalten, sondern sie auch als parkartiges Ensemble in die neue Struktur einer verdichteten Gartenstadt zu integrieren. Die versetzte, lockere Anordnung der sich nach innen öffnenden Blöcke und Solitäre soll diese Parkatmosphäre erlebbar machen.

Der geschlossene Rand bietet den erforderlichen Schallschutz zu den umgebenden Gleisen und Straßen und ermöglicht die sich nach innen auflockernde Struktur mit 12-geschossigen Höhenakzenten.

Der 1. Preis im Wettbewerb Neues Stadtquartier auf dem Areal der Eggarten-Siedlung in München von Studio Wessendorf und Atelier Loidl

Der 1. Preis im Wettbewerb Neues Stadtquartier auf dem Areal der Eggarten-Siedlung in München von Studio Wessendorf und Atelier Loidl

Sie haben sich über eine Forderung der Auslobung – den zentralen Park – hinweggesetzt. Warum?

Zum einen ist ein großer Park Bestandteil des Entwurfs. Er legt sich im Süden und Osten um das Quartier und trägt maßgeblich zur Vernetzung von Quartier und Umgebung bei. Ein weiterer Park in der Quartiersmitte wäre unserer Ansicht nach nicht erforderlich und hätte zu einer größeren Verdichtung in den Randbereichen und gröberen Hierarchisierung des Freiraumes geführt. Wir haben uns da ganz bewusst für ein kleinteiliges und vielschichtigeres Raumkontinuum entschieden, welches die Bäume regelhaft integriert.

War das aus Ihrer Sicht die gewinnrelevante Entscheidung? Die meisten anderen Einreichungen haben einen zentralen Freiraum integriert …

Den zentralen Freiraum in ein kleinräumlicheres, inneres Freiraumgefüge mit spezifischen Nutzungsangeboten zu übersetzen, hat, denke ich, durchaus überzeugt. Verstärkend kam hinzu, dass wir uns ansonsten mit der Vielzahl weiterer Anforderungen des zukünftigen Modellquartiers wie Klimaökologie, Klimaneutralität, Lärmschutz, Abstandsflächen, innovativem Mobilitätskonzept bis hin zu einer realistischen Realteilbarkeit sehr intensiv auseinandergesetzt und diese entwurflich umgesetzt haben. Bis auf den Wunsch nach einem zentralen Park haben wir die Aufgabenstellungen der Auslobung sehr gewissenhaft abgearbeitet.

Wann und nach welchen Kriterien setzt man sich im Entwurfsprozess über eine Vorgabe hinweg und wann nicht?  

Entwerfen bedeutet immer auch eine Vermittlung zwischen Zielkonflikten. Man muss bedenken, dass eine Auslobung in der Regel geschrieben wird, bevor räumliche Konzepte vorliegen. Die Entwurfsfindung ist also von einer permanenten Abwägung und Priorisierung von Einzelaspekten begleitet. Wenn man dann eine Lösung gefunden hat, von der man überzeugt ist, schöpft man daraus den Mut, sich gegebenenfalls über so einiges hinwegzusetzen.

Studio Wessendorf, Berlin

Inhaber: Jörg Wessendorf

Gründung: 2008

Spezialisierung: Städtebau

Anzahl Mitarbeiter*innen: 3-5

Philosophie: Bei jeder Aufgabe suchen wir bei intensiver Reflexion des Ortes nach der Lösung, die aus ihrer Selbstverständlichkeit heraus Einzigartigkeit, Unverwechselbarkeit und Identität schafft. 

Vorbilder: Zwischen Utopien idealer Städte und informell gewachsener Urbanität alles, was inspiriert 

Stärken: nicht locker zu lassen, bis es kickt

Größter Erfolg: 2020, drei erste Preise in Folge

Bitterste Niederlage: nach einem ersten Preis und hoher Akzeptanz eines Wettbewerbsergebnisses von 2012 nicht mit der Masterplanung beauftragt worden zu sein (und vor allem, sich das gefallen zu lassen)

 Sind Sie damit auch schon mal auf die Nase gefallen? 

Einschneidend war ein Erlebnis ganz am Anfang meiner Selbstständigkeit. Wir gewannen gleich bei dem ersten gemeinsamen Wettbewerb mit Atelier Loidl, dem prominenten Drachenfelsplateau in Königswinter, einen ersten Preis. Der andere erste Preis wurde an Axel Schultes und WES Landschaftsarchitektur vergeben. Im Gegensatz zu allen anderen Teilnehmern hat er sich komplett über die Vorgabe hinweggesetzt, das bestehende Gebäude zu erhalten, was die Jury extrem gespalten hat. Den Zuschlag nach Überarbeitung hat dann der dritte Preisträger mit einem braven, konsensfähigen Entwurf bekommen.

Mutig waren wir bei der Planungswerkstatt für den Unicampus Siegen am Haardter Berg. Dabei ging es zunächst darum, sich zu entscheiden, drei bestehende Campusse besser miteinander zu verbinden oder zwei Standorte aufzugeben und am dritten Standort zu konzentrieren. Letzteres war spürbar nicht die intendierte Absicht des Auftraggebers. Weil wir es aber besser fanden, haben wir genau das vorgeschlagen – und konnten damit überzeugen, denn wir wurden mit der Masterplanung beauftragt.

Die meisten anderen Beiträge folgten dem Wunsch der Bauherrin nach einem zentralen Park. Im Bild der 2. Preis von Ernst Niklaus Fausch Partner sowie Hager Partner aus Zürich

Die meisten anderen Beiträge folgten dem Wunsch der Bauherrin nach einem zentralen Park. Im Bild der 2. Preis von Ernst Niklaus Fausch Partner sowie Hager Partner aus Zürich

Kann man das Risiko oder andererseits auch die Chance, damit zu punkten, vorher in irgendeiner Weise abschätzen?

Ich glaube, je selbstverständlicher ein Entwurf ist, desto höher ist auch dessen Akzeptanz in einer Jury. Vielleicht lassen sich anhand der Zusammensetzung der Jury Rückschlüsse auf die Wagemutigkeit schließen, aber im Großen und Ganzen sind wir, glaube ich, davon eher unberührt geblieben.

Hinter bestimmten Aspekten steckt ein politischer Wille, der schwer verhandelbar ist. Dafür bekommt man im Laufe der Zeit aber ein Gespür. In Auslobungen wird bei Aufgabenstellungen, die sowohl Wohn- als auch gewerbliche Nutzungen fordern, oft auf ein ungestörtes Nebeneinander dieser Funktionen hingewiesen. Vorschläge, die klassischen Grenzen zwischen diesen Nutzungen aufzuweichen und synergetisch zu vermischen, stoßen aber vermehrt auf Zustimmung.

Aber wir waren auch schon mal so überzeugt von unserem Entwurf, dass wir verkehrliche Anforderungen etwas leichtfertig abgehandelt haben, was ein Ausschlusskriterium gewesen sein könnte.

Die Jury lobt besonders, dass Ihr Entwurf die orthogonale Grundstruktur der bestehenden Gärten aufgreift? Was ist daran so vorteilhaft?

Der Footprint des bebaubaren Bereichs war in seiner Lage und Geometrie mehr oder weniger vorgegeben und orthogonal, gleichzeitig bot der Kontext keine „schrägen“ Bezüge, die wir aufgreifen konnten oder wollten, somit scheint uns eine orthogonale Struktur, die sich am bestehenden Raster orientiert, das Selbstverständlichste. 

Durch die versetzte Anordnung der Baukörper im orthogonalen Raster werden dann gerade diagonale, freie und „unkanalisierte“ Blickbezüge möglich, die für das landschaftliche Erleben sehr wichtig sind. So blickt das Grün im neuen Quartier immer wieder in unterschiedlichen Facetten um die Ecke. Damit wird die ursprüngliche Atmosphäre erhalten, ohne die bestehenden Strukturen komplett konservieren zu müssen. Letztendlich soll das Spiel mit dem orthogonalen Raster auch an das Layout der unvollendeten Gartenstadt von 1920 erinnern.

Die Eggarten-Siedlung gilt als eine der letzten „romantischen Brachen“ im Münchner Stadtgebiet. Seit Bekanntwerden der Bebauungspläne regt sich entsprechender Protest. Inwiefern beeinflussen Sie derartige Konflikte im Laufe des Entwurfsprozesses? 

Das Wissen um einen Sehnsuchtsort schärft sicher die Brille und intensiviert den Wunsch, die Atmosphäre eines Ortes aufzugreifen. Gleichzeitig gehen wir den Entwurf pragmatisch an und vertrauen auf ein Wettbewerbsergebnis, das durch die Vielzahl seiner Lösungsansätze das Potenzial eines Ortes aufzeigt und einen anschließenden Diskurs und gesellschaftlichen Konsens ermöglichen kann. Die Erfahrung zeigt, dass neben konservativen Einzelinteressen, die eine Veränderung per se ablehnen, die Bürgerschaft in vielen Städten so aufgeschlossen ist, dass ein konstruktiver Austausch möglich ist.

Wichtig für eine breite Akzeptanz ist vielleicht auch das Versprechen, dass ein solches Gebiet wie der Eggarten durch die neue Planung zukünftig einer breiten gesellschaftlichen Mehrheit zur Verfügung stehen wird und dass dies Versprechen auch glaubwürdig verfolgt und umgesetzt wird.

Beim Eggarten sind die Voraussetzungen dafür ganz gut, da es bereits in der Auslobungsphase intensive Zusammenarbeit von Eigentümern, Genossenschaftsvertretern und Stadt gegeben hat, was nicht selbstverständlich ist. Das konnte man in der Aufgabenstellung herauslesen, in der bereits ein hoher Anteil geförderten Wohnraums festgelegt ist und Werte wie Nachbarschaft und Gemeinschaftlichkeit einen hohen Stellenwert bekommen haben.

Flossen Bewohner*innen- beziehungsweise Pächter*innenwünsche in die Planungen ein?  

Viele Rückmeldungen aus der Bürgerbeteiligung sind schon in das städtebauliche Strukturkonzept und damit in den Eckdatenbeschluss des Münchner Stadtrats eingeflossen, der Grundlage der Auslobung war. Das umfasst beispielsweise das Thema Gartenparzellen für künftige und bisherige „Eggärtner“, aber auch bessere Radwegeverbindungen durch das Quartier, den Baumerhalt und den Erhalt von Bestandsgebäuden als Reminiszenz an den Ort. „Kleinere“ Themen wie z. B. der Wunsch nach einem Biergarten oder artenreiche Freiflächen wurden ergänzend in die Auslobung aufgenommen. Auch die Dokumentation der Bürgerveranstaltungen war Teil der Wettbewerbsauslobung, sodass wir die Wünsche und Anregungen der Bevölkerung direkt oder mittelbar in vielfältiger Weise aufnehmen konnten.

Der Entwurf bietet ein großes Spektrum möglichen Gärtnerns im privaten, gemeinschaftlichen und öffentlichen Raum, welches das zukünftige Quartiersleben lebendig machen soll. Pächterwünsche sind somit grundsätzlich strukturell gut integrierbar, konkret platziert dann aber in der weiteren Planung zu berücksichtigen.

Eine weitere Besonderheit Ihres Entwurfs ist der Vorschlag, das Quartier weitgehend autofrei zu halten. Besteht bei einem Quartier am Rand von München mit einem hohen Anteil an Pendler*innen nicht die Gefahr, dass das in den Verhandlungen mit der Bauherrin wieder aufgeweicht wird?

Die Struktur des zukünftigen Eggarten-Quartiers ermöglicht die Verteilung dezentraler Quartiersgaragen an den beiden Rändern an den bestehenden Straßen, was ein autoarmes inneres Quartier mit relativ kurzen Wegen zu den Garagen für alle bedeutet. Es bleibt abzuwarten, ob man diesen Ansatz bis zum Ende weiter verfolgt, aber ich glaube die Grundvoraussetzungen sind erst mal günstig, zumal der hohe Anteil genossenschaftlichen Wohnungsbaus eher eine hohe Akzeptanz eines innovativen Mobilitätskonzeptes erwarten lässt. Im Vergleich zu anderen Entwicklungsgebieten scheint der Anspruch eines Modellquartiers hier durchaus erwünscht zu sein.

Wie lief die Zusammenarbeit? Irgendwelche Besonderheiten im Entwurfsprozess?

Die Zusammenarbeit war gut und intensiv bei einem Entwurfsprozess, der im Nachhinein irgendwie lustig war. Bei einer hohen baulichen Dichte, viele Bäume erhalten zu wollen, brachte natürlich schnell Bilder von hohen Häusern im Park ins Spiel, im Entwurfsprozess begleitet von der Fragestellung, wie man unsere Vorstellung von Urbanität mit einer offenen Struktur zusammenbringt, wie man den Raum hierarchisiert und unterscheidbar macht.

Da haben wir viel ausprobiert, gelernt und letztendlich eine große Ehrenrunde gedreht. Denn gelandet sind wir wieder bei einer der ersten Konzeptskizzen meiner Mitarbeiterin Nina Rickert, die wir ganz am Anfang als „zu speziell, zu hybrid, zu Fort-artig, zu komponiert, zu irgendwas“ abgetan haben – einem Entwurf, der eine Balance aus offener und geschlossener Bauweise mit einhergehender landschaftlicher Offenheit und gefassten behaglichen Räumen herstellt. Danke, Nina!

Randnotizen Wettbewerb Stadtquartier Eggarten, München

 

Aufwand: 700 Stunden und 70 Liter Clubmate

 

Preisgeld: 40.000 €

Soundtrack des Wettbewerbs: Harry telefoniert

Spruch: Wie die anderen das wohl gelöst haben? 

 

Panne: bei der Siegesfeier das Notebook klauen lassen

Held*in: alle, die mitgemacht haben

Der Tag nach dem Wettbewerb: wie immer schnell noch den Modellbauplan machen

 Der Artikel erschien erstmals am 25. August 2020 auf competitionline.