Zum zehnten Mal wird in diesem Jahr der renommierte Architekturpreis für nachhaltige Bauprojekte vergeben. Im Rahmen des 15. Deutschen Nachhaltigkeitstages am 1. und 2. Dezember 2022 in Düsseldorf fand am heutigen Freitag die Preisverleihung statt.

Die Entscheidung fiel der Jury unter dem Vorsitz von DGNB-Präsident Prof. Amandus Samsøe Sattler nicht leicht. Gleich vier Finalisten gab es deshalb in diesem Jahr: Das Rathaus Korbach, den Erweiterungsbau des Landratsamtes in Starnberg, das Hotel Wilmina in Berlin und die IGS Integrierte Gesamtschule in Rinteln. Gemeinsam ist allen Projekten laut Jury ein gelungener Umgang mit dem Thema Bestand. Schließlich fiel die Entscheidung zugunsten des Projekts Wilmina von Grüntuch Ernst Architekten in Berlin.

"Durch das konsequente Hinzufügen einer neuen Zeitschicht ist es gelungen, mit nur wenigen baulichen Eingriffen und maximalem Substanzerhalt einen ehemals beklemmenden Ort der Justiz in einen innerstädtischen Ruheraum zu transformieren", so die Jurybegründung. "Das Gebäude ist ein hervorragendes Beispiel für die Nachverdichtung im Gebäudebestand mit minimalem C02-Fußabdruck bei gleichzeitiger Entsiegelung und Renaturierung von Flächen."

Wilmina: Der Bestandsbau aus dem Jahr 1896 wurde von Grüntuch Ernst Architekten saniert und erweitert.

Wilmina: Der Bestandsbau aus dem Jahr 1896 wurde von Grüntuch Ernst Architekten saniert und erweitert.

Geschichtsträchtiges Erbe: Hotel Wilmina, Berlin / Grüntuch Ernst Architekten BDA

In der Kantstraße, einer der belebtesten Straßen West-Berlins, weckten die Berliner Architekten Grüntuch Ernst einen besonderen Ort aus dem Dornröschenschlaf: ein ehemaliges Frauengefängnis, verborgen im Inneren des Häuserblocks. Auf Eigeninitiative transformierten sie einen ehemaligen Ort des Schreckens zu einem einladenden Ort der Geborgenheit.

Das Strafgericht und das dazugehörige Gefängnis wurden 1896 als freistehende Gebäude von den Architekten Adolf Brückner und Eduard Fürstenau errichtet. Im Vorderhaus an der westlichen Kantstraße war das Schöffengericht untergebracht, im angegliederten Seitenflügel befanden sich die Tageszellen. Über einen Innenhof gelangte man zum Quergebäude mit Schleusenhof und dem Hinterhaus, in dem sich das Frauengefängnis befand. Hier waren während des zweiten Weltkriegs unter anderem Widerstandskämpferinnen der Roten Kapelle inhaftiert. Das Gebäude wurde bis 1985 als Gefängnis genutzt und stand seitdem leer. Bis 2010 befanden sich im Gerichtsgebäude Grundbuchamt und Archiv des Stadtbezirks Charlottenburg.

Das neue Ensemble Wilmina umfasst drei Bereiche: Das Hotel Wilmina, das Restaurant Lovis, und den „Amtsalon“: das in einen transdisziplinären Kunst- und Kulturraum verwandelte Gericht an der Kantstraße. Die Strukturen des denkmalgeschützte Bestands wurden durch Öffnungen, Aufbauten, Überlagerungen, Verschiebungen und Durchdringungen erweitert, verbunden und neu programmiert. Der neu entstandene Ort soll Austausch und gemeinschaftliches Miteinander auf angenehme Art und Weise ermöglichen.

Die Zellen wurden zu wohnlichen Hotelzimmern umgestaltet.

Die Zellen wurden zu wohnlichen Hotelzimmern umgestaltet.

Aus ehemaligen Gefängniszellen entstanden 44 Gästezimmer: von gemütlichen Schlafkojen bis hin zum großzügigen Garden Loft, das sich im ehemaligen Versammlungsraum befindet. Um eine wohnliche Atmosphäre zu schaffen, wurden ein partieller Rückbau von Zwischenebenen und Zwischenwänden und eine unterseitige Vergrößerung der Fenster vorgenommen. Jeder Raum ist ein Unikat, aber in allen prägen helle Farben, weiche Texturen und warme, hochwertige Materialien die Atmosphäre. Die kleinen Fenster der ehemaligen Zellen ließen vor dem Umbau zwar Tageslicht ein, lagen aber zu hoch, um den Blick nach draußen zu ermöglichen. Deshalb haben die Architekten die Maueröffnungen der Fenster nach unten erweitert, die Gitter im oberen Fensterteil bleiben erhalten. Am hinteren Treppenhaus bleibt eine Zelle im Originalzustand bestehen.

Garten Lobby des Hotels

Garten Lobby des Hotels

Die Hofdurchfahrt des ehemaligen Gerichtsgebäudes, dem heutigen „Amtsalon“, führt in einen renaturierten und entsiegelten Innenhof, der einen Gegensatz zum dunklen Ziegelstein des Gebäudekomplexes bildet. Die Fassadenberankungen konnten auch während der Baumaßnahmen weitestgehend erhalten bleiben. Zusammen mit intensiv und extensiv begrünten Flachdächern sind 30 Prozent der Gebäudehülle begrünt; die Gartengestaltung erfolgte durch atelier le balto und Christian Meyer Garten- und Bepflanzungsplanung. Der vormalige Schleusenhof beherbergt heute das Restaurant. Von dort gelangte man früher in die Zellentrakte. 

Der vormalige Schleusenhof beherbergt heute das Restaurant Lovis.

Der vormalige Schleusenhof beherbergt heute das Restaurant Lovis.

Die Aufstockung, in der ein Penthouse eingerichtet wurde, ist thermisch hoch gedämmt; zum Einsatz kamen nachhaltige natürliche Materialien wie Massivholz und Metall, auf Verbundbaustoffe wurde verzichtet. Durch die behutsame Konversion der denkmalgeschützten Struktur wurden CO2-Emissionen, Bauschutt und der Aufwand für An- und Abtransport im Vergleich zu einem möglichen Neubau erheblich reduziert. Im Gebäude abgebrochenes Material wie Ziegel oder Treppenstufen wurden vor Ort wiederverwendet. Die thermisch wirksame Masse der bestehenden Bausubstanz führt zu einer passiven Regulierung der klimatischen Bedingungen und zu einem robusten Verhalten, so dass die Anforderungen an die technische Gebäudeausrüstung auf ein Minimum reduziert und ein konsequenter Low-TechAnsatz verfolgt wurde.

Treppenhaus im sogenannten Amtsalon, einem Veranstaltungsort im früheren Gerichtsgebäude.

Treppenhaus im sogenannten Amtsalon, einem Veranstaltungsort im früheren Gerichtsgebäude.

"Wilmina ist ein einzigartiges architektonisch-dialektisches Ensemble aus kulturgeschichtlichem Bewusstsein und zugewandtem Ort", lautet das Urteil der Jury. "Das Projekt regt nicht nur zum Nachdenken über das Wesen von Gemeinschaft, Generationen und städtischen Gegensätzen an. Es zeigt ganz beiläufig auf, welche ökologischen Möglichkeiten die Neuprogrammierung auch von herausforderndem baulichem Erbe bietet, und ist damit ein im besten Sinnen nachhaltiges Architekturprojekt."

Grüntuch Ernst Architekten

Grüntuch Ernst Architekten wurde 1991 von Armand Grüntuch und Almut Grüntuch-Ernst in Berlin gegründet. Mit über 40 Mitarbeiter*innen deckt das Büro das gesamte Spektrum von der Planung bis zur Realisierung ab. Das Werk umfasst Wohn- und Bürogebäude, Verkehrsbauten, Hotels und Bildungseinrichtungen, aber auch Sonderaufgaben wie die Konzeption und Gestaltung des deutschen Beitrags auf der Architekturbiennale 2006 in Venedig. Für ihre realisierten Projekte, u.a. in Berlin, Hamburg, Leipzig und zuletzt Chemnitz und Madrid, erhielten die Architekt*innen zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen. Das Projekt Wilmina wurde bereits mit dem BDA Preis 2021 gewürdigt. Für Grüntuch Ernst Architekten war es nicht das erste Projekt dieser Art: Im Jahr 2012 wurde die ehemalige Jüdische Mädchenschule in der Berliner Auguststraße nach langen Jahren des Leerstands nach einer behutsamen Transformation als Kulturstandort wieder eröffnet.

Armand Grüntuch hat an der RWTH Aachen und an der IUAV Venedig studiert, Almut Grüntuch-Ernst an der Universität Stuttgart und an der AA in London. Beide haben als wissenschaftliche Mitarbeiter an der HdK Berlin gelehrt. Seit 2011 ist Almut Grüntuch-Ernst Professorin an der TU Braunschweig. Von 2010 bis 2015 war sie Mitglied der Kommission für Stadtgestaltung München. 2019 hatte Armand Grüntuch eine Vertretungsprofessur am Institut für Entwerfen und Architekturtheorie der Leibniz Universität Hannover. Seit 2016 ist er Mitglied des Beirats der Bundesstiftung Baukultur, sie Mitglied der Akademie der Künste.

Die weiteren Finalisten

Rathaus Korbach / Arbeitsgemeinschaft agn Niederberghaus & Partner GmbH und heimspiel architekten Matzken Kampherbeek PartGmbB; Urban-Mining-Konzept: energum GmbH mit bimolab gGmbH

Das neue Rathaus in der Kreis- und Hansestadt Korbach verbindet ein saniertes Gebäude aus dem Mittelalter mit einem Neubau, der einen Erweiterungsbau aus den 1970er-Jahren ersetzt. Letzterer wurde so zurückgebaut, dass ein Großteil der Ressourcen wieder Verwendung im Neubau fand. Zugleich schrieben die Architekten die vorhandenen Dachlandschaften fort und wählten eine Formensprache, die sich zurückhaltend in das Bild der Innenstadt einfügt. Die Jury würdigt das Projekt als Pionier des Urban-Mining-Prinzips bei gleichzeitig hohem Anspruch an die Baukultur.

Urban-Mining-Pionier: Rathaus Korbach (Arbeitsgemeinschaft agn Niederberghaus & Partner GmbH und heimspiel architekten Matzken Kampherbeek PartGmbB)

Urban-Mining-Pionier: Rathaus Korbach (Arbeitsgemeinschaft agn Niederberghaus & Partner GmbH und heimspiel architekten Matzken Kampherbeek PartGmbB)

Erweiterungsbau Landratsamt Starnberg / Auer Weber Assoziierte GmbH

Der Erweiterungsbau des Landratsamtes Starnberg ist ein zweigeschossiges Hybridgebäude aus Holz, Stahl und Beton in modularer Bauweise. Der Neubau fügt sich gestalterisch in das bereits 1987 fertiggestellte Landratsamt ein. Zugleich wurden die Materialien und energetischen Standards auf heute vorherrschende Ansprüche angepasst. gewürdigt wurde das Projekt für den behutsamen Umgang mit dem Bestand sowie dessen gelungenem Weiterdenken in Form, Materialität und Konzeption.

Modularer Hybrid aus Holz, Stahl und Beton: ​​​​​​​Erweiterungsbau Landratsamt Starnberg (Auer Weber Assoziierte GmbH)

Modularer Hybrid aus Holz, Stahl und Beton: ​​​​​​​Erweiterungsbau Landratsamt Starnberg (Auer Weber Assoziierte GmbH)

IGS Integrierte Gesamtschule, Rinteln / Bez + Kock Architekten Generalplaner GmbH

Die IGS Integrierte Gesamtschule Rinteln im Landkreis Schaumburg ist ein zweigeschossiger Neubau in Holz-Beton-Hybridbauweise, der einen bestehenden Schulcampus vervollständigt. Das ehemalige Schulgebäude wird dabei nicht abgerissen, sondern für die Gemeinde weiter genutzt. Raumprägendes Gestaltungselement des Neubaus ist der nachwachsende Rohstoff Holz. Dieser stammt zu großen Teilen aus regionaler Forstwirtschaft und wird in Bauteilen so eingesetzt, dass er für zukünftige Veränderungen leicht demontierbar ist. Die Jury betont die pädagogische Wirkung der klimaschonenden Schularchitektur, die für Lernende und Lehrende sicht- und erlebbar wird.

 

„Wir freuen uns, dass bei den diesjährigen Bewerbungen eine große Anzahl an Projekten mit dabei war, die in vielfältiger Form das Potenzial für Klimaschutz und Ressourcenschonung in unserem Gebäudebestand ausschöpfen“, so der Jury-Vorsitzende Sattler. „Die Finalisten zeigen auf besonders gelungene Art und Weise, wie wir Architekturgeschichte über Jahrzehnte fortschreiben können, adressieren Themen wie Urban Mining, also die Nutzung der wertvollen Rohstoffe im Gebäudebestand, und erschaffen neue Welten in baulichem Erbe. Sie sind damit große Vorbilder für die so dringende Bauwende, die wir nur aus dem Bestand heraus schaffen.“

Deutscher Nachhaltigkeitspreis

Der Deutsche Nachhaltigkeitspreis ist die nationale Auszeichnung für Spitzenleistungen der Nachhaltigkeit in Wirtschaft, Kommunen und Forschung. Mit acht Wettbewerben (darunter der Next Economy Award für grüne Gründer*innen), über 1000 Bewerber*innen und 2000 Gästen zu den Veranstaltungen ist der Preis der größte seiner Art in Europa. Die Auszeichnung wird vergeben von der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen – DGNB e.V. in Kooperation mit der Stiftung Deutscher Nachhaltigkeitspreis e.V., und in Zusammenarbeit mit der Bundesregierung, kommunalen Spitzenverbänden, Wirtschaftsvereinigungen, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Forschungseinrichtungen. Rahmen für die Verleihung ist der Deutsche Nachhaltigkeitstag in Düsseldorf.