Ein Plus, das aufhorchen lässt: Der Wohnungsbau ist im vergangenen Jahr überraschend gewachsen – allerdings vor allem im öffentlichen Sektor. Wie der Blick in die competitionline-Ausschreibungsstatistik zeigt, wuchs die Zahl der Planungsausschreibungen in dem Objekttyp 2022 um 5,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr auf 769 Stück an. Im zehnjährigen Schnitt hat sich die Anzahl der Auslobungen mehr als verdreifacht.

 

Immobilienökonom Günter Vornholz von Immobilien-Research ordnet die Zahlen im Gespräch mit competitionline als "überraschend" ein. "Ein derartiges Wachstum im öffentlichen Wohnungsbau ist aus statistischen Daten nicht ablesbar." Die Zahl der von der öffentlichen Hand gebauten Wohnungen blieb von 2021 auf 2022 bei rund 10.000 Stück nahezu konstant. "In der Konsequenz sind öffentliche Ausschreibungen also kleinteiliger geworden."

Und selbst im derzeitigen Jahr des Wohnungsbau-Abschwungs geht dem Sektor nicht die Puste aus: Bis Ende November dieses Jahres weist die Ausschreibungsdatenbank einen Anstieg der Wohnungsbau-Ausschreibungen um knapp sechs Prozent aus. Eine Dynamik, die Fachmann Vornholz als wichtiges Zeichen einstuft. "Seit dem Ende der großen Finanz- und Wirtschaftskrise sind die Preise und Mieten für Wohnimmobilien ab 2011 durchgängig gestiegen. Die öffentliche Hand als sozialorientierter Player, der auch in Zeiten akuter Wohnungsknappheit nicht fluchtartig das Feld verlässt, ist unverzichtbar."

Dass der öffentliche Sektor trotz multipler Krisen dem Wohnungsbau treu bleibt, unterstreicht auch der Blick in die Bundesländer: In keiner der starken Wohnungsbau-Regionen ging die Zahl der Ausschreibungen im vergangenen Jahr nennenswert zurück. Spitzenreiter Bayern bleibt mit mehr als 200 Auslobungen weiter auf Platz eins. Die tiefere Analyse der bayerischen Zahlen zeigt: Getragen wird der Wert fast zur Hälfte von Ausschreibungen der Stadt München.

 

Mit großem Abstand hinter Bayern liegt Brandenburg auf Platz zwei. Das Bundesland hat zwischen 2021 und 2022 im Wohnungsbau einen großen Sprung gemacht und verweist traditionell ausschreibungsstarke Bundesländer wie Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen auf die weiteren Ränge. "Die Stärke Brandenburgs liegt zum einen in einem externen Faktor begründet", erklärt Vornholz. "Das Land zerrt stark vom ungebrochen hohen Zuzug nach Berlin und dem dort limitierten Angebot an Wohnungen. Die fast schon aberwitzigen Mietsteigerungen in der Hauptstadt zwingen die Menschen in die äußeren Ringe, um dort zu wohnen."

Dies treffe auf eine ohnehin dynamische Lage: "Durch den Trend zu immer mehr ortsflexiblem Arbeiten wächst die Bereitschaft vieler Menschen, auch in größerer Entfernung zum Arbeitsplatz zu wohnen. Das macht die im Vergleich immer noch niedrigeren Mieten im weiteren Berliner Umland attraktiv." Zum anderen wirke in Brandenburg ein interner Faktor: die Gigafactory von Tesla in der Gemeinde Grünheide. "Dort soll die Anzahl der Jobs auf bis zu 22.500 verdoppelt werden. Diese Menschen müssen irgendwo wohnen etc., sodass die Nachfrage nach Wohnraum auch in dieser eher ländlichen Region deutlich ansteigt."

Die Brandenburger Landesregierung hatte zu Jahresbeginn in einer Studie vorgerechnet, dass das Flächenangebot rund um Grünheide bei Weitem nicht ausreicht, um den Bedarf, der durch den Ausbau der Batteriefabrik entsteht, zu decken. Bis 2030 würde die Nachfrage laut Wirtschaftsministerium auf knapp 1600 Hektar anwachsen; den Bestand an unmittelbar verfügbaren Flächen gibt das Land aber lediglich mit 770 Hektar an. Im weiteren Brandenburger Umland bestehe zudem das Potenzial, weitere 2800 Hektar zu entwickeln.

 

Allerdings dürfe man nicht den Fehler machen, den Tesla-Effekt auf andere diskutierte Industrieansiedlungen zu projizieren, warnt Vornholz. "Die Ansiedlung von Intel in Magdeburg wird nicht die Ausschreibungen in ganz Sachsen-Anhalt antreiben. Anders als in Grünheide gibt es im Magdeburger Süden riesige Industriebrachen, die seit Jahrzehnten leer stehen. Da wird niemand bei Intel bereit sein, eine Stunde bis nach Halle zu pendeln." Bei den Wohnungsbau-Ausschreibungen bildet Sachsen-Anhalt seit Jahren mit Bremen und dem Saarland das Schlusslicht.

Wettbewerbsrückgang hemmt notwendige Innovationen

Während die Zahl aller Ausschreibungen im Wohnungsbau seit Jahren kontinuierlich ansteigt, sinkt die Anzahl der Wettbewerbe stetig. Im vergangenen Jahr gab es 68 RPW-Verfahren. In der Konsequenz heißt das: Wettbewerbe im Wohnungsbau verlieren rapide an Bedeutung. 2022 war nicht einmal mehr jede zehnte Ausschreibung ein Wettbewerb; zehn Jahre zuvor lag der Anteil noch bei 45,6 Prozent.

 

 

Eine Entwicklung, die Stadtplaner und Architekt Franz Pesch umtreibt. Der Inhaber von Pesch Partner saß in den vergangenen Jahren bei knapp 60 Wohnungsbau-Wettbewerben dem Preisgericht vor. "Im Wohnungsbau erleben wir in den vergangenen Jahren eine Entwicklung weg von Realisierungswettbewerben hin zu beschränkten Verfahren, vor allem Mehrfachbeauftragungen", betont er im Gespräch mit unserer Redaktion. Vor allem um Kostenvorteile auszuschöpfen, würden sich Bauträger dabei auf bekannte und erfahrene Büros stützen.

 

"Auch wenn die Qualität der Entwürfe aus beschränkten Verfahren nicht per se schlechter ist als in Wettbewerben, beobachte ich diesen Trend mit Sorge."
Franz Pesch erfahrener Preisrichter und Inhaber von Pesch Partner

 

Dadurch wachse die Gefahr, "dass am Ende alle Wohnquartiere gleich aussehen". Zudem komme es bei einem kleineren Teilnehmerkreis, wie es in Mehrfachbeauftragungen üblich ist, zu "definitiv weniger Innovationen", so Pesch. Allerdings seien neue Konzepte "für zukunftsfähige Wohngebäude, die hohe Anforderungen an klimagerechtes Bauen und differenzierte Wohnformen erfüllen müssen, essenziell. Das spricht für Wettbewerbe." In einem größeren Teilnehmerfeld würden es Büros eher "wagen, auch einmal unkonventionelle Wege zu gehen".

Beim Blick auf die zukünftige Entwicklung der Ausschreibungen im öffentlichen Wohnungsbau ist Vornholz optimistisch: "Der Bedarf ist da, deshalb können Länder und Kommunen gar nicht anders, als Projekte auf den Weg zu bringen. Das dauert seine Zeit, vor allem, weil in vielen Städten nicht mehr nur leere Kassen ein Problem sind, sondern zunehmend auch fehlendes Personal, das plant und genehmigt." Welche Effekte das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von Mitte November haben wird, ist allerdings noch nicht absehbar.

Allerdings gehöre zum ganzen Bild auch: "Der öffentliche Wohnungsbau ist eine Nische", so Vornholz. Gerade einmal einen Anteil von 3,4 Prozent an allen knapp 300.000 gebauten Wohnungen im vergangenen Jahr hatten rein öffentliche Bauherren. 95 Prozent des Marktes wird von privaten Playern dominiert: (Immobilien-)Konzerne wie Vonovia, finanzstarke Fonds und die vielen kleinen Häuslebauer mit dem Traum vom Eigenheim.

 

Doch die Dominanz der Privaten wird derzeit zum Problem und lässt den Wohnungsbaumotor stottern. Denn nach der Corona-Pandemie trieb der russische Überfall auf die Ukraine Anfang 2022 neben den Materialpreisen auch die allgemeinen Lebenshaltungskosten nach oben. Die EZB erhöhte im Kampf gegen die starke Inflation mehrfach die Zinsen. "Im Gegensatz zu den vergangenen zwölf Boom-Jahren wurde das Bauen durch diesen Mix für die Privaten maximal unattraktiv. Der öffentliche Wohnungsbau hingegen hat andere Rahmenbedingungen, die nicht konjunktur- oder zyklusgebunden sind."

In der Konsequenz brechen seit dem Spätsommer 2022 die Baugenehmigungen Monat für Monat um bis zu einem Drittel ein, und das Ifo-Institut meldet immer neue Rekordwerte an Projektstornierungen im Wohnungsbau. Begleitend warnt die Baulobby mit markigen Worten, dass der Sektor nach jahrelangen Preissteigerungen "nicht durchatme, sondern kurz vor dem Erstickungstod steht". Die Bundesregierung versucht, mit Steuererleichterungen und gelockerten Vorschriften gegenzusteuern.

Allerdings betrifft der konjunkturelle Rückgang im Wohnungsbau vor allem den Neubau. Beispiel Baugenehmigungen: Zwischen Januar und September dieses Jahres gingen diese im Neubau um über 31 Prozent zurück, im Bestand gerade einmal um fünf Prozent. In der Folge ist der Anteil der Wohnungen, die in bereits gebauten Gebäuden entstehen, auf knapp 16 Prozent angestiegen – der Neubau verlor dagegen entsprechend an Gewicht.

 

Eine Entwicklung, die Prof. Amandus Samsøe Sattler nur folgerichtig findet: "Wohnungsneubau ist ein extremer Zielkonflikt zu den Klimazielen. Die derzeitige Fokussierung auf diesen Sektor ist ein immenser Beschleuniger für uns auf dem Weg in die von UN-Generalsekretär Antonio Guterres zitierte 'Klimahölle'", sagt der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) im Gespräch mit unserer Redaktion. "Die Lösung kann nicht lauten, dass wir in Zukunft weiter ungebremst neu oder 'einfach nur' ressourcenschonender und mit regionalen Materialien bauen."

Der Inhaber von ensømble studio architektur rechnet vor: "Bisher dachten wir, dass ein Gebäude hohe Klimaschutzanforderungen erfüllt, wenn es auf nicht mehr als zwölf Kilogramm CO₂-Äquivalent pro Quadratmeter kommt. Nur inzwischen wissen wir aus der Forschung, dass uns das nicht mal in die Nähe des 1,5-Grad-Ziels bringt. Wenn wir bei zwölf Kilogramm bleiben, landen wir 2100 bei fünf bis 8,5 Grad Erderwärmung." Selbst Gebäude, die "lediglich aus Stroh und Holz gebaut sind, kommen allein wegen ihres Betonfundaments inklusive der eventuell notwendigen Flächenversiegelung schon auf über sechs Kilogramm CO₂-Emissionen. Auch das reicht nicht, wir müssten noch viel weiter runter."

Die Konsequenz:

"Wir müssen viel weniger neu bauen und uns fast ausschließlich auf den Bestand konzentrieren."
Amandus Samsøe Sattler Architekt und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB)

Der einzige wirkungsvolle Hebel dafür seien die Baukosten. "Wir haben in den vergangenen Monaten gesehen, wie sehr der Neubau zurückgeht und das Bauen im Bestand an Relevanz gewinnt, wenn die Kosten sehr schnell sehr stark steigen", so Samsøe Sattler. "Wenn ich auf die Bauwirtschaft blicke, sehe ich, dass die Krisen ein Umdenken zu nachhaltigeren Bauweisen beschleunigen. Wir müssen priorisieren, was wir an Gebäuden brauchen und was wir davon wirklich neu bauen müssen. Einfach immer nur 'mehr bauen' ist definitiv nicht Teil der Lösung, sondern ein richtiges Problem."

Auch Immobilienökonom Vornholz pocht auf ein Umdenken beim Bauen. "Wir brauchen dringend eine bundesweite Übersicht, wo wie viele Wohnungen bzw. auch andere Immobilien benötigt werden, wie viel Potenzial es für Umbau in den jeweiligen Regionen gibt und wie viel wir letztlich dann doch neu bauen müssen. Das ist unabdingbar, damit die Immobilienwirtschaft zu einer nutzerorientierten Perspektive kommt und nicht mehr das gebaut wird, was dem Bauherrn die größte Kaufmannsrendite einbringt, aber gleichzeitig natürliche Ressourcen frisst."

Datenbasis competitionline Monitor

Die Grundlage des competitionline Monitors bilden Ausschreibungen aus Deutschland, die im Jahr 2022 auf competitionline.com veröffentlicht wurden. Diese stammen von offiziellen Ausschreibungsorganen (regionale und überregionale Amtsblätter), wurden von privaten und öffentlichen Bauherr*innen direkt zugesandt oder von der competitionline-Redaktion aus über 400 zusätzlichen Quellen kontinuierlich recherchiert und zusammengetragen. Für die deutschen Vergabeverfahren stellt diese Datenbasis seit Jahren eine stabile und verlässliche Auswertungsgrundlage dar.

Im Objekttyp Wohnungsbau fassen wir folgende Ausschreibungen zusammen: Aufstockung, Dachgeschosse, Penthäuser, Doppelhäuser, Zweifamilienhäuser, Einfamilienhäuser, freistehend Geschosswohnungsbau, Mehrfamilienhäuser, Nachverdichtung im Bestand, Reihenhäuser, Wohnheime für Asylbewerber, Wohnheime für Behinderte, behindertengerechtes Wohnen, betreutes Wohnen, Wohnheime für Kinder, Jugendliche, Wohnheime für Menschen mit psychischen Erkrankungen, Wohnheime für Senioren, Altenheime, Residenzen, Wohnheime für Studenten, Wohnheime, sonstige Wohnsiedlungen, -quartiere Wohnungsbau (allgemein).

Wir berücksichtigen alle Architektenwettbewerbe, die mit einem realen Planungsauftrag in Verbindung stehen. Studentenwettbewerbe, Kunst- und Design-Wettbewerbe sind nicht Teil der Wettbewerbsanalyse, werden allerdings bei Aussagen zu Ausschreibungen generell berücksichtigt.

Dieser Artikel erschien erstmals am 30. November 2023 auf competitionline.com.