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Award / Auszeichnung | 02/2021

Deutscher Städtebaupreis 2020

Städtebaulicher Entwicklungsbereich Stuttgarter Straße, Französisches Viertel

DE-72072 Tübingen

SONDERPREIS 2020 „STÄDTEBAU REVISITED“

LEHENdrei | Architektur Stadtplanung

Stadtplanung / Städtebau

LS Architektur Städtebau BDA DASL, Prof. Leonhard Schenk

Stadtplanung / Städtebau

Projektdaten

  • Gebäudetyp:

    Städtebauliche Projekte

  • Projektgröße:

    keine Angabe

  • Status:

    Realisiert

  • Termine:

    Fertigstellung: 01/2019

Projektbeschreibung

LEHEN drei | Architektur Stadtplanung
Martin Feketics SRL BDA und Matthias Schuster SRL BDA DASL
Architekten und Stadtplaner, Stuttgart
mit Leonhard Schenk, Architekt und Stadtplaner SRL BDA DASL, Stuttgart

In Zusammenarbeit mit:
Universitätsstadt Tübingen
vertreten durch Baubürgermeister Cord Soehlke
und Andreas Feldtkeller, Amtsleiter i.R.

Beurteilung durch das Preisgericht

In den achtziger Jahren, nach dem Ende der Großsiedlungsplanungen der sechziger und siebziger Jahre, diskutierten Stadtplaner und Architekturkritiker die Idee, Stadt nach dem historischen Prinzip des Bauens auf der Parzelle zu entwickeln (vgl. Dieter Hoffmann-Axthelm). Propagiert wurde das Modell einer Stadt, die weder als rückwärtsgewandt noch als fortschrittlich bezeichnet werden kann. Die Vorstellung einer lebendigen Stadt beruhte auf der Aufteilung der Grundstücke in kleine Parzellen, die von Bürgerinnen und Bürgern erworben werden können. Auf kleinen Grundstücken sollte zu realen Herstellungspreisen Eigentum entstehen, ohne die kostentreibende Beteiligung von Investoren und Baugesellschaften.

Für den Tübinger Stadtplaner und langjährigen Leiter der Altstadtsanierung, Andreas Feldkeller, war das Thema der kleinteiligen Struktur nichts Neues. Hatte er doch seit den siebziger Jahren erfolgreich daran gearbeitet, das historische Zentrum in eine lebendige und lebenswerte Stadt zu verwandeln. Durch den Abzug des Militärs der ehemaligen Besatzungsmächte eröffnete sich der Stadt Tübingen, wie vielen anderen Städten in der Bundesrepublik, die Chance neue Quartiere zu planen. Im Unterschied zur Entwicklung von vielen vergleichbaren Arealen in Deutschland, die auf eine lukrative Bebauung von großen Einheiten für Wohnbaugesellschaften oder Investoren setzten, verfolgte Tübingen den bislang nicht üblichen Weg der Parzellierung in kleine Einheiten. Grundlage dafür war die Ausschreibung eines internationalen städtebaulichen Ideenwettbewerbs Anfang der 1990er Jahre, den fünf junge Studenten der Universität Stuttgart gewinnen konnten. Drei von ihnen gründeten daraufhin das gemeinsame Büro „LEHEN drei Architekten und Stadtplaner“. Der Erfolg beruhte auf dem Umstand, dass ihr Modell den idealen Vorstellungen der Stadt, in Person von Andreas Feldkeller, wie auch der Jury des Verfahrens entsprach. In seinem 2001 veröffentlichen Buch „Städtebau: Vielfalt und Integration“ fasste Feldkeller seine Überlegungen zusammen, indem er die Stadt als „Integrationsmaschine“, als vernetztes sozialwirtschaftliches Gefüge und damit als Grundlage für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft beschrieb.

Alle Beteiligten erkannten sowohl die Chance als auch das Wagnis, ein neues und doch bekanntes Modell eines städtischen Quartiers entwickeln zu können. Das mutige Konzept ist aber in erster Linie den damals noch jungen und mit wenig Praxis vertrauten Kollegen zu verdanken. Nach der zügigen Beauftragung eines Rahmenplans begaben sie sich auf den Weg der komplizierten und mühevollen Umsetzung ihres Entwurfes. Das komplexe Vorgehen und die Leitlinien der Quartiersentwicklung lassen sich mit Funktionsmischung, einer intensiven Bürgerbeteiligung, sozialer Diversität, der hohen Dichte und der Möglichkeit, mit geringen Investitionen Eigentum zu schaffen, nur annähernd umschreiben. Das Baurecht ergab sich aus dem Rahmenplan und dem daraus entwickeltem Bebauungsplan.

Die Arbeit der Architekten erfolgte hauptsächlich an Modellen, deren einzelne Kuben fortwährend, wie Bauklötze – mal größer mal kleiner, mal an diesem oder jenem Ort – umsortiert wurden, bis den jeweiligen Nutzungswünschen, aber auch den finanziellen Möglichkeiten der einzelnen Parteien Rechnung getragen werden konnte. Dabei waren konkrete Dachformen, Gebäudehöhen und Materialität der Fassaden, wie sie in der Regel in Bebauungsplänen festgeschrieben sind, nicht vorgegeben. Der Freiheitsgrad für die Gestaltung der einzelnen Parzelle war enorm, und dennoch mag man sich nicht ausmalen, wie viel Aufwand, Zeit und Geduld die ständigen Veränderungen des „Baukastens“ erforderten. Wenn man heute durch diesen Teil der Stadt geht, ist davon nichts zu spüren. Es sind auch nicht die unterschiedlichen Gebäudehöhen oder deren Breite und auch nicht die Vielfalt an Formen und Materialien, die das Auge gefangen nimmt, sondern der öffentliche Raum, den die Bewohnerinnen und Bewohner mit Leben füllen. Als seien die Straßen und die Plätze schon immer so gewesen. Es entsteht das Gefühl, dass die Flure und Zimmer dieses Stadtteils weder besser noch schlechter entworfen sein könnten, weil sie in sich stimmig sind und eine erfrischende Vielfalt in der Einheit bilden. Architektinnen und Architekten mögen sich gelegentlich an der gestalterischen Formenvielfalt stören, die sich der Freiheit und den Wünschen der Bewohnerinnen und Bewohner verdankt. Der Umstand, dass jede Parzelle nach den Vorstellungen der einzelnen Besitzer und deren Architekten entworfen sind, mag ausschlaggebend sein für die starke Identifikation der Bewohner mit der Umgebung und dem eigenen Haus als Element des öffentlichen Raums. Ein Sammelsurium unterschiedlicher Architekturen ist vertretbar, wenn die Parzellen klein sind und damit eine Dominanz eines einzelnen Bausteins nicht gegeben ist. Mehr als bei der Architektur des einzelnen Hauses bedarf ein städtebauliches Konzept eines längeren Zeitraums, um dessen tatsächlichen Wert zu erkennen. Es ist zu erwarten, dass der Stadtteil mit zunehmendem Alter noch an Zuspruch und Vitalität gewinnen wird. Dreißig Jahre nach dem Wettbewerb für das Französische Viertel in Tübingen erweist sich die Idee der Parzellierung für dieses Gebiet als ein Erfolgsrezept mit hoher Alltagstauglichkeit und Vorbildfunktion für einen partizipativ orientierten Städtebau.