"Wie groß ist die kleinstmögliche barrierefreie Wohneinheit?" Dieser Frage widmete sich eine Kooperation der TU Berlin mit der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen. Das Projekt “Mikrowohnen – barrierefrei?” ging als Gewinner aus dem competitionline campus Award 2021 in der Kategorie Fakultätsprojekte hervor. Präsentiert wurden die Ergebnisse des zweiwöchigen Workshops im Rahmen einer Ausstellung in der Senatsverwaltung. Den Kern bildete eine im Seminar entwickelte barrierefreie Modellwohnung im Maßstab 1:1, die nicht nur Objektträger aller Modelle und Pläne, sondern zugleich selbst Ausstellungsexponat war.

Die Modellwohnung trägt das Präsentationsmaterial der Workshop-Projekte und bildet zugleich selbst ein Anschauungsobjekt. Im Vordergrund bei der Planung stand eine gute Zonierung der Wohnfläche.

Die Modellwohnung trägt das Präsentationsmaterial der Workshop-Projekte und bildet zugleich selbst ein Anschauungsobjekt. Im Vordergrund bei der Planung stand eine gute Zonierung der Wohnfläche.

Die 1:1-Wohnung

… ist wie eine begehbare dreidimensionale Zeichnung gestaltet. Das Bad wird als zentraler Raum platziert und zoniert die kompakte Einraumwohnung in verschiedene Funktionsbereiche. Der Weg um den Kern führt die Besucher*innen vom öffentlichen Eingangsbereich über den Küchenbereich bis in den privaten Schlafbereich – ganz ohne Wände und Türen. Die Bewegungsradien für ein barrierefreies Wohnen wurden bei der Planung bedacht und sind in der Modellwohnung mit Markierungen gekennzeichnet. Einem Gefühl von Enge wird in der etwa 24 m² großen Wohnung mithilfe von Blickbeziehungen über Spiegel und Durchblicke entgegengewirkt.

Das Projekt im Fach Modell+Design der TU Berlin wurde interdisziplinär gemeinsam mit der Hochschule Luzern, Auszubildenden der Tischlerei der TUB sowie der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin bearbeitet.

Das Projekt im Fach Modell+Design der TU Berlin wurde interdisziplinär gemeinsam mit der Hochschule Luzern, Auszubildenden der Tischlerei der TUB sowie der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin bearbeitet.

Aus einer Zusammenarbeit mit der Abteilung barrierefreies Planen und Bauen der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung ging die Idee hervor, die Konzeption einer kleinstmöglichen barrierefreien Wohnung in einem Seminar mit Studierenden in Angriff zu nehmen. Peter Schwer, Betreuer eines Vario-Wohnprojekts in Marzahn, und Christine Kolbert, Professorin der Bauwirtschaft an der TU Berlin, gaben zu Beginn eines zweiwöchigen Workshops im Fach Modell+Design den ersten Input zu variablen Wohnkonzepten und kostengünstigem Bauen.

Jedes der Konzepte wurde in der Ausstellung anhand eines physischen Modells präsentiert.

Jedes der Konzepte wurde in der Ausstellung anhand eines physischen Modells präsentiert.

Ziel des Seminars war es, Studierende für die Fragestellungen des integrativen Bauens zu sensibilisieren und das Bewusstsein für das Thema Barrierefreiheit als selbstverständliche Bauaufgabe zu stärken. Insgesamt enstanden während des Projekts zehn sehr unterschiedliche Ansätze für ein berlintypisches Wohngebäude in Modellen und Plandarstellungen. “Diese Arbeit hat das Potenzial, einen Mehrwert für die gesamte Baubranche zu liefern”, ist sich die campus-Jury sicher. “Die Kombination von Mikrowohnen und Barrierefreiheit ist zukunftsweisend, wir brauchen sie dringend.” Die Entwürfe vereinen zwei planerische Rahmenbedingungen, die sich auf den ersten Blick auszuschließen scheinen – das Mikrowohnen und die Barrierefreiheit.

Inspiriert von einer wachsenden Sharing-Kultur untersuchten und entwickelten die Studierenden intelligente Lösungen für integratives Co-Living. Dabei reichten die Konzepte von der Einbettung barrierefreier Module in Bausysteme über Wohnungen, die sich an verschiedene Lebensabschnitte anpassen, bis hin zu multifunktionalen Möbelsystemen. Die campus-Jury lobt die Bezugnahme auf den Bestand, die praktische Umsetzung des Entwurfs im Maßstab 1:1 sowie das Arbeiten in einer interdisziplinären Kooperation.

Podiumsdiskussion bei der Ausstellungseröffnung in Berlin im März 2020

Podiumsdiskussion bei der Ausstellungseröffnung in Berlin im März 2020

Architektin Annette Müller und Architekt und Künstler Robert Niemann leiten Modell+Design, eine Einrichtung für den gestalterischen Modellbau an der TU Berlin. Sie haben den Workshop “Mikrowohnen – barrierefrei?” begleitet und erzählen im Gespräch mit competitionline von ihren Erfahrungen während des Seminars.

 

Wie führen Sie die Studierenden an das Thema Barrierefreiheit heran?

Niemann: Viele Studierende haben Berührungsängste, andere gar keine Erfahrung mit dem Thema. In diversen Seminaren im Vorfeld haben wir daher einfache Sensibilisierungsübungen angeboten, bei denen Studierende zum Beispiel einen Tag im Rollstuhl verbracht oder gemeinsam mit einem blinden Menschen den Reichstag erkundet haben. Diese Übungen erlauben das Sammeln neuer Erfahrungen und schaffen dadurch eine andere Sichtweise.

Barrierefreiheit und Mikrowohnen eigentlich ein Widerspruch in sich. Wie ist es gelungen, die Themen am Ende doch zusammenzubringen?

Niemann: Durch Sharing-Konzepte und Gemeinschaftsbereiche kann man Platz sparen und dann auch Barrierefreiheit unterbringen. Dafür muss man das Thema kreativ angehen.

Müller: Die Konzepte von Co-Living, flexiblen Wohnungen und Vario-Wohnen gab es in den 1970er-Jahren schon einmal. Seitdem hat sich die Gesellschaft stark verändert – wir sind heute viel bereiter, uns die Autos oder den Arbeitsplatz zu teilen. In einem Haus mit Shared-Living-Prinzip kann eine Wohnung größer sein, damit dort ein Rollstuhlfahrer wohnen kann. Dafür werden an anderen Stellen eine Küche, ein Wohnraum oder ein Arbeitsplatz geteilt. Zudem können Zwischenräume und Verkehrsflächen neu gedacht und gemeinschaftlich genutzt werden.

Was zeichnet Ihre Arbeitsweise aus?

Müller: Über das Workshop-Format erreichen wir eine gute Gruppendynamik. Von Anfang an ermutigen wir die Studierenden, nicht in Konkurrenz zu denken, sondern ein möglichst breites Spektrum an Ideen zu entwickeln. Unsere Aufgabe als Betreuer*innen ist es, die Studierenden in verschiedene Richtungen zu leiten. Die interdisziplinären Arbeitsprozesse ziehen die Gesellschaft und die Verwaltung mit ein und münden in einer praktischen Arbeit am Modell. Nur so erreichen wir am Ende ein Ergebnis, was alle verstehen.

Die Studierenden hatten im Anschluss an den zweiwöchigen Ideenfindungs-Workshop noch zusätzlich Zeit, um an ihren Präsentationsmodellen zu arbeiten.

Die Studierenden hatten im Anschluss an den zweiwöchigen Ideenfindungs-Workshop noch zusätzlich Zeit, um an ihren Präsentationsmodellen zu arbeiten.

Warum ist das Medium Modell für die Ausstellung so wichtig?

Niemann: Das Modell ist unser Kommunikationsmittel, und wir empfinden es als sehr demokratisch, weil es jeder verstehen kann. Wenn ich eine Zeichnung oder einen Grundriss sehe, muss ich diese erst mal lesen können. Auch bei einem 3D-Modell muss eine Interpretationsleistung stattfinden. Selbst ein bewegbares digitales 3D-Modell ist für manche schwieriger zu verstehen als ein reales Modell, was haptisch und plastisch greifbar ist.

Angeregte Diskussion bei der Ausstellungseröffnung (links).
Student Simon Hawkins präsentiert sein Projekt (rechts).

Angeregte Diskussion bei der Ausstellungseröffnung (links). Student Simon Hawkins präsentiert sein Projekt (rechts).

Müller: Die Begehbarkeit und Erlebbarkeit im 1:1-Modell in diesem Projekt hilft sehr bei der Vermittlung der Inhalte an die Besucher*innen. Unterschiedliche Perzipienten bringen individuelle Wahrnehmungen mit. Die dreidimensionale Version eines Raums im Modell – wenn auch verkleinert – ist doch die am nächsten sich an der Realität befindende Kommunikationsform.

Synergien schaffen: Zwei Tischlerinnen der Zentralwerkstatt im zweiten Lehrjahr wurden mit der Umsetzung des Projekts betraut.

Synergien schaffen: Zwei Tischlerinnen der Zentralwerkstatt im zweiten Lehrjahr wurden mit der Umsetzung des Projekts betraut.

Was ist aus dem Projekt geworden? Gibt es Zukunftspläne?

Müller: Zwei Wochen vor dem ersten Lockdown hatten wir die Ausstellung noch mit einer angeregten Podiumsdiskussion eröffnet. Von März bis Oktober letzten Jahres standen die Ausstellungsobjekte dann in der Senatsverwaltung und durften leider nicht besucht werden. Die Ausstellung war eigentlich als Wanderausstellung konzipiert, auch das konnte leider Corona-bedingt nicht stattfinden. Als die Senatsverwaltung umgezogen ist, hatte sie keinen Platz mehr für die großen Wohnungselemente. Daher haben wir die Wohnung vorerst zu uns an die TU geholt und nutzen sie im Moment als Dunkelkammer. Wenn die Pandemie vorbei ist, haben wir so immerhin die Möglichkeit, die Ausstellung noch mal zu zeigen.

 

Zwei Wochen lang wurde in einem Workshop-Format von morgens bis abends gemeinsam mit den Studierenden an ihren Ideen gefeilt. Statt Konkurrenzdenken bildet sich hier ein großes, kollektives Labor.

Zwei Wochen lang wurde in einem Workshop-Format von morgens bis abends gemeinsam mit den Studierenden an ihren Ideen gefeilt. Statt Konkurrenzdenken bildet sich hier ein großes, kollektives Labor.

Der Artikel erschien erstmals am 2. Juli 2021 auf competitionline.com.